Der Frühlingsschläfer. Friederike Gahm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Friederike Gahm
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347079724
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vorbereitetes Tablett mit Sektgläsern herbei, mein Großvater verglich den Zeigerstand der großen, ehrwürdigen Standuhr im Wohnzimmer mit der nüchternen Fernsehuhr, und mein Vater bekam die Sektflasche in die Hand gedrückt, begleitet von dem alljährlichen Ratschlag meiner Mutter, sofort mit dem Entkorken zu beginnen, damit der Knall genau auf die Sekunde erfolge. Mein Vater grunzte eine Antwort, ließ sich bei der Zeremonie nicht reinreden, zelebrierte sie mit einer Kunstpause, bevor er endlich anfing, den Draht gemächlich aufzuzwirbeln. Dieser Moment war immer wieder spannend, auch wenn ich aus Erfahrung wusste, dass der Korken exakt auf den letzten Schlag, den die alte Standuhr in dem Jahr von sich geben sollte, aus der Flasche schießen würde.

      Dann ließ man die Gläser klingen, wünschte sich Glück und schien allseits sehr erleichtert, dass man nun wieder 365 Tage Zeit hatte, bis es galt, die nächste Silvesterfeier in Angriff zu nehmen. Während draußen die ersten Leuchtraketen am Himmel aufstiegen und die Glocken das neue Jahr einläuteten, entwickelte sich eine schüchterne Fröhlichkeit. Ich nippte langsam an meinem Sekt, den ich fast so gern mochte wie die Orangencreme; ganz allmählich kroch eine wohlige Müdigkeit in mir hoch. Der ungewohnte Alkohol sprudelte meine Silvesternöte hinweg; der Jahreswechsel war überstanden. Ich meinte, plötzlich einen Zipfel Glück erwischt zu haben und fühlte eine beschwingte Feierlichkeit angesichts des Neuen, das soeben begonnen hatte. Die Erwachsenen unterhielten sich lebhaft über dies und das. Ich beobachtete sie aus meiner schillernden Seifenblase heraus und schnappte nur vereinzelte Wortfetzen auf.

      Wenn die erste Stunde des neuen Jahres vorbei war, gingen wir gewöhnlich nach Hause. Wir wohnten in einem Stuttgarter Vorort, nur wenige Minuten von meinen Großeltern entfernt, und der Rückweg durch die klare, kalte Januarnacht war nur kurz, leider viel zu kurz. Wenngleich Spaziergänge von mir normalerweise unwillig absolviert wurden, hätte ich in der Neujahrsnacht gern mehrere Kilometer zurückgelegt. Unterwegs hoffte ich, dass niemand etwas sagen würde, um nicht die merkwürdig mystische Stimmung zu stören, die diese Nacht auszustrahlen schien. Vielleicht lag es an der ungewohnten nächtlichen Stille, gepaart mit meiner Müdigkeit, dass mir alles so geheimnisvoll erschien; vielleicht wirkten die Sterne nur deshalb so leuchtend, weil ich sie sonst zu einem Zeitpunkt betrachtete, an dem die Umgebung noch viel heller war; vielleicht war es auch bloß der Sekt, der mich besonders empfindsam machte. Jedenfalls fühlte ich auf dem Heimweg, dass die Nacht und ich eine unerklärliche Einheit bildeten. Ich war ganz allein mit ihr, und sie gehörte ausschließlich mir, bis von außen etwas in diese Harmonie einbrach und sie zerstörte. Schon irgendeine überflüssige Bemerkung genügte, und alles war vorbei. Wenn ich Glück hatte, beendete erst das Anschalten der Hausflurlampe meine Euphorie, dieses einzigartige Gefühl, dieses absolute Liebesempfinden - so bedingungslos, dass es nicht lange währen konnte. Bis zum letzten Augenblick blieb es vollkommen. Es existierte oder existierte nicht und war in seiner Kompromisslosigkeit von jedem äußeren Einfluss zerstörbar. Ich versuchte, diesen Zustand in mir zu bewahren, um ihn vor dem Einschlafen noch einmal ganz für mich allein zu erleben. Es gelang nie.

      Wenn ich im Rückblick die Silvestererlebnisse einem bestimmten Jahr zuordnen will, ist mir dies unmöglich. In der Erinnerung scheint sich alles an einem einzigen langen Abend abgespielt zu haben, irgendwann Ende der sechziger Jahre. Verschiedene Fernsehprogramme gehen ineinander über, verschiedene Sänger kämpfen wie ein Mann gegen unendliche Minuten, verschiedene Tänzer verschmelzen zu einem Riesenballett. Auch weiß ich nicht zu sagen, wie viele dieser so genannten Feiern ich miterlebt habe. Vielleicht waren es fünf, vielleicht sechs; auf jeden Fall waren es zu viele.

       2

      Als meine Großeltern nicht mehr lebten, änderte sich die Silvesterprozedur. Der erste Jahreswechsel, der anders zu werden versprach und auch wirklich ganz anders wurde, gab sich besonders verheißungsvoll. Ich war inzwischen neunzehn Jahre, stand unmittelbar vor dem Abitur und war außerdem unsterblich in einen meiner Lehrer verliebt. Er unterrichtete nicht nur mittelhochdeutsche Minnelyrik in meiner Klasse, sondern hatte auch noch den selben Vornamen wie der Dichter Walther von der Vogelweide - nur ohne h. Diesen kleinen Stilbruch übersah ich großzügig. Er war Anfang dreißig, groß und schlank, unverheiratet und ohne Konkurrenz in einem Lehrerkollegium, in dem die wenigen Vertreter des männlichen Geschlechts bereits kurz vor der Pensionierung standen. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass ich mich in ihn verliebte und mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit versuchte, ein Tête-à-tête einzufädeln; verwunderlich ist vielmehr, dass meine phantasievollen Bemühungen schließlich Erfolg hatten und Walter bei einem Glas Wein, fernab von Schule, Kollegen, Eltern und sonstigen Störfaktoren meinte, er sei ebenfalls in mich verliebt. Zu diesem Geständnis ließ er sich an einem Spätherbsttag hinreißen. Der Himmel war aus blauer Seide; ich hatte das Glück entdeckt. Aber mein himmelblaues Glück blich ziemlich schnell aus. Es wurde fleckig. Ich weigerte mich, die Wandlung zur Kenntnis zu nehmen. Unter üblichen Bedingungen wäre ich des Flirts wahrscheinlich längst überdrüssig gewesen, aber hier spielte der Reiz des Verbotenen mit. Jedes Treffen baute sich auf einem fein gesponnenen Lügennetz auf, vor jedem Telefonanruf galt es, ungeahnte Hindernisse zu überwinden, jeder tiefe Blick während des Unterrichts brachte den Nervenkitzel mit sich, ob ihn noch ein Dritter bemerken würde. Nichts war selbstverständlich; Langeweile und Gewohnheit bekamen keine Chance. Das Leben war aufregend wie nie. Außerdem erhielt ich indirekten Zugang zum Lehrerzimmer, denn mein Angebeteter war redselig und ließ sich bereitwillig aushorchen. Ich war über allen Lehrerklatsch bestens informiert und betrachtete meine Schulumgebung mit der freundlichen Herablassung der Wissenden.

      Zu Beginn der Weihnachtsferien lud Walter mich zu einem gemeinsamen Silvester ein. Mein Glück war sofort wieder von ungetrübtem Himmelblau. Wir würden bei ihm zu Hause feiern, dachte ich, träumte von Zärtlichkeit und von Minne. Es überraschte mich sehr, als sich herausstellte, dass er mit mir zu einem Silvesteressen gehen wollte - offensichtlich ganz ohne die üblichen Bedenken, gemeinsam etwas vor den Augen der gefürchteten Öffentlichkeit zu unternehmen. Diese Ankündigung übertraf alle Erwartungen. Ich versuchte mir vorzustellen, dass wir wie jedes normale Liebespärchen zusammen tanzen würden, und war ganz sicher, dass alle meine bisherigen Silvesterträumereien kläglich waren, verglichen mit dem, was nun kommen sollte. Die Zeit schlich. Am liebsten hätte ich einige Tage aus dem Kalender gestrichen. Weihnachten, sonst das glänzende Ereignis des Jahres, verblasste vor dem Bevorstehenden. Weder Gabentisch noch Tannenbaum gelang es, mich vollkommen in ihren Bann zu ziehen. Selbst der spannende Moment, als meine Eltern ihre Päckchen auswickelten, die ich zuvor wie immer stundenlang eingepackt und verziert hatte, büßte gehörig an Reiz ein. Weihnachten war nur noch Nebensache. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ihm etwas anderes den Rang abgelaufen. Weihnachten war erwachsen geworden.

      Die Tage danach vergingen wesentlich schneller. Ich dachte lange über eine offizielle Silvestergestaltung nach, die elterlichen Bedenken standhalten konnte. Leider war mein Vorzeigefreund, den ich vor allem als Alibi für meine anderweitigen Verabredungen missbrauchte, zum Jahresende verreist und hatte diese Tatsache auch noch überall herumerzählt. Ich musste mir also etwas Neues einfallen lassen. Es schien mir ratsam, möglichst nahe bei der Wahrheit zu bleiben, und so konstruierte ich eine Party, die bei jemandem aus meiner Klasse stattfinden sollte. Fortuna war mir wohlgesonnen; wider Erwarten gaben sich meine Eltern mit meinen recht fragmentarischen Informationen zufrieden und hakten nicht weiter nach. Ich konnte ungestört zur Detailplanung übergehen. Einen ganzen Nachmittag verbrachte ich in der Stadt, um einen symbolträchtigen Talisman zu finden, den ich Walter um Mitternacht geben wollte. Dabei strapazierte ich die Geduld mehrerer Verkäuferinnen, durchlitt die Qual der Wahl und kaufte schließlich einen winzigen Elefanten aus Jade, für den ich willig einen unverschämten Preis bezahlte. Natürlich musste rechtzeitig überlegt werden, was ich am bewussten Abend anziehen würde. Ich probierte alle in Frage kommenden Möglichkeiten durch. Nach vielem Hin und Her fiel meine Wahl auf das edelste Kleid, das ich besaß, ein Seidenes. Es war dem Anlass angemessen. Diese Entscheidung wurde allerdings durch das Fehlen einer passenden Strumpfhose gefährdet, sodass ich schließlich meine letzten Ersparnisse zusammenkratzen musste, um ein besonders hauchdünnes Paar zu erstehen.

      Während dieser minutiösen Vorbereitungen befand ich mich in ständiger Euphorie, durchlebte sämtliche Stadien der Vorfreude und genoss die Weltumarmstimmung aller Verliebten. Schon waren die vier Tage nach Weihnachten vorüber, ein nieseliger, grauer Silvestermorgen zog vorbei, und es war soweit: