Volker Schmidt
Der Physicus
- Das salomonische Erbe -
Roman
© 2020 Volker Schmidt, Prof. Dr.
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN | |
Paperback: | 978-3-347-06611-3 |
Hardcover: | 978-3-347-06612-0 |
e-Book: | 978-3-347-06613-7 |
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Erster Teil:
Kapitel I - Die Heilerin
Avignon, ehemaliger Sitz des Papstes und Residenz des Königs
1448 anno Domini, Winter
Es hatte erst vor kurzem geschneit und über den Dächern von Avignon lag eine dichte Decke aus schimmernden Schneeflocken. Zierlich weiß schoben sich ab und zu kleine unscheinbare Wölkchen vor den Sternenhimmel und verdeckten dabei die Sicht auf die hell leuchtenden Sternzeichen. Manchmal sah man schlierenartig das Wetterleuchten am Himmel, was in letzter Zeit doch immer häufiger zu sehen war. In dieser Gegend - soweit südlich - war das eigentlich ungewöhnlich. Wenn man ganz genau hinschaute, konnte man sogar sehen, wie die Engel die Sterne zum Glänzen brachten, weshalb dessen hellgelbes Licht dabei ständig zu Flackern schien. Sie funkelten besonders hell und schön in eiskalten Nächten und derer waren es zuletzt sehr viele. Herrlich gemütlich kam dann der Duft von Eichenholz aus den Kaminen und hüllte die Stadt in einen angenehm warmen Dunst.
Der Fluss - die Durance - war zum Teil schon zugefroren, was das Arbeiten zwar wahrlich nicht leichter machte, doch der Anblick von bunten sich im Eis spiegelnden Häusern war Entschädigung genug für den Mehraufwand, den die Kälte mit sich brachte. Wären die Zeiten nicht so brutal real gewesen und hätten die Bewohner zuletzt nicht ständig frieren müssen, weil das Brennholz mal wieder knapp war, dann hätten sich in der heutigen Nacht vielleicht sogar ein paar warme Träume erfüllt. Träume, wie sie kleine Kinder manchmal haben. Träume, die sie forttragen in die Gegenden eines Zauberreiches mit bunten Gnomen und fliegenden Feen. Doch heute saßen die Kinder in Avignon nur vor den Fenstern und sie schauten hinaus auf den verschneiten und eisigen Fluss. Das träumen war ihnen in dieser Woche schnell vergangen, denn allzu eilig kam mal wieder die eiskalte Nacht. Eng aneinander gedrängt schliefen die Familien in einem kargen Bett aus Stroh und Laken, das Feuer in Gang haltend und ständig versuchend ein Auge zuzumachen und etwas Schlaf zu bekommen. Doch der frostige Winter war in diesem Jahr übermächtig geworden. In dieser Nacht war an Schlaf nicht zu denken.
Auch Julie saß nur still an ihrem Tisch und aß ohne einen Gedanken ihr Abendbrot. Für Holz hatte sie gestern noch gesorgt, so dass das Feuer herrlich warm loderte. Sie lebte alleine, ohne Mann, in einem kleinen Haus, in das sie sich vor etwa drei Jahren eingemietet hatte. In ihrem kargen Raum mit Kamin und Bett, lagen neben ihr auf der Sitzbank drei große Haufen mit weißer Wäsche. Es war schon spät am Abend - vielleicht um Mitternacht - sie hatte gerade das Bettzeug von drei betuchten Familien fertig zusammengelegt, da überkam sie ein Anfall von Müdigkeit. Am liebsten wäre sie gleich hier, an Ort und Stelle, eingeschlafen, auf dem Stuhl, auf dem sie saß. Doch sie musste etwas essen, bevor der nächste Tag wieder nur noch mehr neue Arbeit bringen würde. Eine Feier stand an und der Domprobst hatte zur Hochzeit seiner Tochter geladen. Da war Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden.
Ohne Appetit zwängte Julie sich gerade einen kleinen Happen in den Mund, dabei dachte sie an ihren Vater, als plötzlich die Tür aufflog und eine kleine Frau, völlig außer Atem, in ihr Haus trat. Es war eine Dirne - das war unschwer zu erkennen - ihre Aufmachung verriet dies und ganz offenbar hatte sie es nicht nötig, anzuklopfen.
»Schnell, Madame« rief sie. »Kommt bitte schnell mit. Mein Mann liegtim Sterben.« Die Frau schloss die Tür von innen - ziemlich hektisch - wartete dann aber geduldig ab, was die Julie ihr antworten würde.
Julie schaute etwas ärgerlich drein, denn wieder einmal hatte sie vergessen, ihre Eingangstür abzusperren. »Wo?« fragte sie und zog sich ihren Umhang enger um ihre Beine, weil die hereingelassene Kälte bereits bis zu ihren Füßen vorgekrochen war.
»Er liegt in meiner Wohnung. In der Rue de la Vaucluse. Das alte Fachwerkhaus am Torbogen. Gleich neben der Kirche. Zweiter Stock. Schnell, Madame. Bitte helfen sie ihm« flehte die Dirne. »Er stirbt … glaube ich.«
»Ich komme. Gehen sie vor« sagte sie, stand auf und zog sich ihren Mantel über. Ihr Abendmahl ließ sie stehen, stattdessen griff sie nach ihrer Tasche und einer Öllampe. Die beiden Frauen rannten hinaus, durch die Gassen von Avignon, an der Durance entlang, hoch bis zur Rue de la Paris und von dort über eine Brücke, über den Domplatz und hinein in die Rue de la Vaucluse. Direkt hinter dem Torbogen stand ein armseliges Fachwerkhaus, das schon lange einzustürzen drohte. Die Frau öffnete die Tür und rannte den Treppenaufgang hinauf bis in den zweiten Stock. Julie folgte ihr einfach, ohne weitere Fragen zu stellen. Dann wurde die Wohnungseingangstür geöffnet und heraus kam ein ekelerregender Geruch. Die Dirne ging zuerst hinein, als ob ihr der Gestank nichts ausmachen würde. Julie dagegen hätte sich fast übergeben und blieb deshalb eine Zeit lang vor der Tür stehen. Sie wendete sich ab und zog dann eine Salbe aus ihrer Tasche, die sie auf ihre Oberlippe rieb, direkt unter ihre Nasenöffnungen. Kurzzeitig verzog sich dabei ihr Gesicht zu einer grotesken Fratze, doch dann lockerte sie ihre Züge wieder, und trat ebenfalls in die Wohnung hinein.
Eigentlich war es gar keine Wohnung. Genauso wie bei Julie selbst, handelte es sich eher um ein kleines Zimmer, in der eine winzige Kochnische und ein Bett untergebracht waren. Im Letzteren lag ein Mann Mitte Vierzig, der sich kaum noch bewegte. Julie stellte ihre Lampe auf den Beistelltisch, ging zum Fenster, riss die Vorhänge auf und öffnete es. Dann erst ging sie zu dem Kranken ans Bett. Sie setzte sich neben ihn und fühlte seine glühende Stirn, dann seinen Puls, der kaum noch zu spüren war. Er lag im Fieber und drehte seinen Kopf hin und her, als er von ihr untersucht wurde. »Er zeigt noch Regung. Dann ist noch nicht alles verloren« stellte sie fest und zog vorsichtig die Bettdecke auf. »Allmächtiger« rief sie, sprang von der Bettkante weg und bekreuzigte sich.
Julie hatte nicht nur den Korpus des Mannes aufgedeckt, sondern gleich auch noch sein halbes Inneres. In seiner Bauchdecke klaffte ein Loch, so groß wie eine Rummel. Das war damals das althergebrachte Wort für eine Futterrübe, für Menschen kaum genießbar. Sie wurde normalerweise angebaut, um die Schweine damit zu füttern, aber ab und zu auch um den eigenen Magen zu füllen, wenn mal wieder das Geld knapp wurde.
Julie untersuchte die Wunde. Der Magen und Teile des Darms lagen mehr oder weniger frei und waren überströmt von gelblichem Eiter. Die Wunde brannte, wodurch natürlich auch das Fieber ausgelöst wurde. Die Säfte verteilten sich schon in der Bauchhöhle. »Wie kann er noch leben?« fragte sie sich insgeheim, als sie den Bauchraum vorsichtig abtastete und sich sämtliche Flüssigkeiten über ihre Finger ergossen. »Es ist wie ein Wunder. Solch eine Verletzung überlebt man normalerweise nicht lange« dachte sie und schaute sich die entzündeten Organe an. Es musste schon ein paar Stunden her sein, so wie der Innenraum aussah. »Wie ist das nur passiert?« fragte sie. »Nein. Sagen sie nichts. Ich will es gar nicht wissen« schob sie gleich hinterher. »Besser, ich weiß es nicht« dachte sie. Sehr wahrscheinlich hätte sie sich mit jeder zusätzlichen Information über diesen Unfall, oder was es auch immer war, nur noch mehr Ärger eingehandelt. Dass sie für das hier Ärger bekommen würde, stand eigentlich schon jetzt fest. »Gerade läuft alles noch gut, und dann …« dachte sie »… und dann kommt sowas.«
Allein die Tatsache, dass sie bereits in das Haus der Dirne mitgekommen war und nun hier saß, reichte für Heiler meist schon aus, diese anzuklagen.
Es