unkaputtbar. Moon River. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Moon River
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347077645
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Familie lebte zu jener Zeit, anfangs 30er-Jahre, in Sulzbach an der Saar. Auch bei ihr hiess es, «das hätte es nicht mehr gebraucht». Nun war sie aber da. Also wurde sie zur Dienstmagd der Familie. Schon als kleines Kind musste sie den Haushalt machen, denn Oma war zeitlebens eine überkandidelte Modepuppe. Stets nach der neuesten Pariser Mode gekleidet. Aber, wie Opa es ausdrückte, ansonsten zu nichts zu gebrauchen.

      Oma und Opa waren ein optisch sehr auffälliges Paar. Sie gerade einmal 145 cm gross, er stolze 209 cm. Selbst für einen Mann war dies in der damaligen Zeit auffallend stattliche Grösse. Oma und Opa stritten nur einmal pro Tag. Während 24 Stunden. Rund ums Jahr. Man bedachte sich gegenseitig mit allerlei Kosenamen: Drecksau, Schmierlappen und Verbrecher waren die netteren aus dieser Reihe. Erstaunlicherweise war Opa sehr geknickt, als Oma nach 70-jähriger Ehe starb. «Sie war die beste Frau, die ich hatte finden können.» Susi fiel dazu gar nichts mehr ein. Nun denn. Sei es so. Oma verliess die Welt am 24. Dezember.

      Opa hatte sich schon im 1. Weltkrieg erfolgreich um einen Fronteinsatz gedrückt. Einmal hatte er den falschen Zug genommen und war anstatt in Paris, wo er erwartet worden war, in Marseille angekommen. Oder er hatte irgendwelche Leute mit Kartoffeln und Speck bestochen. Bei Kriegsende fand Opa sich wohlbehalten wieder im Schoss seiner Familie ein. Nicht all seinen Brüdern war dies gelungen. Danach ging Opa weiterhin seinem Beruf als Musiker nach. Seinen Söhnen erging es nicht so gut. Der älteste wurde gleich zu Beginn des 2. Weltkrieges eingezogen. Die letzte Nachricht von ihm kam von der Krim. Niemand wusste, ob er noch lebte oder ob er gefallen war. Die anderen waren noch Kinder, als sie in den letzten Tagen des Krieges auch einberufen wurde. Immerhin war von ihnen eine Sterbeurkunde gekommen. Mutter war bei Kriegsausbruch noch ein Kind gewesen.

      Es musste zweifelsfrei sehr schlimm gewesen sein, wenn man nicht wusste, was mit ihnen geschehen war, ob sie je zurückkehren würden. Unsicherheit. Tage, Wochen, vielleicht das ganze Leben lang verzweifelte Hoffnung, auf ein kaum je eintretendes Wunder. Leni, Susis Mutter, hoffte selbst als alte Frau darauf, dass vielleicht einer ihrer Brüder eines Tages auftauchen würde. Oma schien es besser zu wissen, denn kurz bevor sie starb, erzählte sie, dass Willfred gekommen sei und sie gebeten habe, mit ihm zu gehen. Sie ging.

      Mit jedem gefallenen Sohn wuchs Omas Zorn auf Leni. Sie begann sie mit allem zu schlagen, was ihr zur Verfügung stand. Mit Kleiderbügeln und Kochlöffeln. So lange, bis die Gegenstände zerbrachen. Auch an Schimpfworten für Leni fehlte es Oma nicht. Worte, die wie Giftpfeile zeitlebens in Mutters Seele steckten und eiterten. «Es wäre besser, du wärst tot», hatte Oma zu ihr gesagt. Selbst als alte Frau war Mutter immer noch sehr traurig darüber.

      Dann kam der Tag, an dem Opa abgeholt wurde. Nicht um in den Krieg zu ziehen. Man brachte ihn weg. In ein KZ. Ein sogenanntes Umerziehungslager. Opa war der Typ Mensch, der immer Recht hatte. Sollte er sich einmal irren, trat sofort das ungeschriebene Gesetz seiner Allmacht in Kraft.

      Es war zu jener Zeit strengstens verboten, BBC zu hören. Opa aber war stolzer Besitzer eines Empfangsgerätes. Seine Neugier stand seiner Sturheit in keiner Weise nach. Er wollte orientiert sein. Möglichst als erster. Von allen Seiten. Eine komfortable Lautstärke. Das hiess, sehr laut. Das stand ihm seiner Meinung nach zu. Kombiniert mit der Tatsache, dass er ein Frischluftfanatiker war, trat ein, was unvermeidlich war. Die Kombination dieser Dinge kostete ihn beinahe das Leben. Mitten in der Nacht wurde das Haus von Oma und Opa gestürmt. Kein Anklopfen, kein Klingeln. Leni starb in dieser Nacht tausend Tode. Angst um die Eltern, Angst vor den grossen, schwarz gekleideten fremden Männern, deren Anwesenheit nichts Gutes verhiess. Der Empfänger wurde beschlagnahmt. Opa musste mit den Männern gehen. Kein Bitten und Betteln von Leni oder Oma half. Einige Tage später wurde auch Leni abgeholt und in ein Kloster in Bayern gesteckt. Dort sollte sie zu einem guten, linientreuen Menschen erzogen werden.

      Leni erzählte später, dass die Klosterschwestern sehr hart und gefühlskalt waren. Gerechtigkeit gab es keine. Das Essen war karg und knapp. Regelmässigkeit gab es nur beim Kirchgang. Nach dem Krieg kam Leni nach Metz ins Lehrerseminar.

      Opas Glück war wohl, dass er eine Rampensau und ein ausserordentlicher Geiger war. So konnte er zur Unterhaltung der Herren Wärter und Offiziere vieles beitragen. Vermutlich tut man in solchen Situationen alles, was einem ein Überleben zu versprechen scheint. So kam es, dass er nach Kriegsende das KZ, zusammen mit einigen wenigen anderen, lebend verlassen konnte. Körperlich war er ein gebrochener Mann. Nicht fähig, mehr als einige wenige Schritte zu gehen und von einem ständigen Tremor (Zittern) begleitet. Das verdarb ihm seine Musikerlaufbahn. Ein Geiger, der immer nur Tremolo spielt, ist nicht das Gelbe vom Ei. Bei der ganzen Familie hinterliess der Krieg schwere psychische und physische Schäden. Auch wenn sie dieses Schicksal mit unzähligen anderen teilten, wurde es nicht dadurch besser. Auch nicht durch die Tatsache, dass es manche noch viel schlimmer getroffen hatte.

      Susi liebte es, wenn Opa Geige spielte. An guten Tagen war es sehr schön anzuhören. Ausserdem war es lustig. Opa wackelte in seinem Rollstuhl umher wie eine Raupe auf einem Ast. Er verdrehte die Augen, schien nicht von dieser Welt zu sein. Susi tanzte zur Elisabethen Serenade oder Heinzelmännchens Wachparade. An solchen Tagen konnte er auch nett zu Susi sein. Er zeigte ihr Bilder von sich. Erster Geiger und Cellist im Staatsorchester war er gewesen. Noch besser gefiel es Susi, wenn Opa und Mutter im Duett spielten. Das waren Momente, in denen man von etwas Normalität sprechen konnte. Susi hätte zu gerne auch Geige gespielt. Opa winkte ab: «Dazu bist du zu dumm.» Sie konnte damals kein Italienisch, dies war aber nach Opas Meinung unbedingte Voraussetzung für Geigenspieler. Später, in der Bezirksschule, wollte sie das Geigenspiel doch noch erlernen, aber ihre Finger waren offenbar zu kurz. So entschied sie sich für Querflöte. Sie vor allem Barockmusik.

      Opa lernte nie wieder richtig essen. 50 Jahre lang ass er jeden Tag genau fünf Salzkartoffeln, ein Ei, einen Löffel Butter, einen Löffel geschabtes Kalbfleisch, ein Blumenkohlröschen. Alles im gleichen Topf mit viel Wasser gekocht. Und drei «Wegg», fertig. Wegg waren ein gummiartiges Gebäck, das er in einem Supermarkt namens Esbella kaufte. In Säcken zu fünfundzwanzig Stück. In der Optik an kleine Weissbötchen erinnernd, geschmacklich ein Gau. Sein Getränk war Miggeflitsch, was man mit Mückenflügel übersetzen konnte. Miggeflitsch war so dünn, dass man gar nicht auf die Idee kam, dass es sich um Kaffee handeln könnte. In dem Gebräu gab es weder Milch noch Zucker.

      Niemand, wirklich niemand, durfte in die Nähe seiner Lebensmittel kommen. Sonst zog ein Unwetter von ungeahnter Wucht auf. Im Haus von Oma und Opa war mittels Malerkreppband alles in Bezirke unterteilt. Omas Seite – Opas Seite. All diese Auflagen machten es als Kind nicht einfach. Man konnte ohne böse Absicht in das Hoheitsgebiet des jeweils anderen Grosselternteiles geraten. Jeder, wirklich jeder, musste beim Überschreiten dieser Grenzen die Pantoffeln wechseln. Das war unabdingbar, um einen Krieg im Haus vermeiden.

      So oder so fiel es vermutlich keinem ein, hinter Opas Speisen zu gehen. Ausser Salz im Nanogrammbereich gab es keinerlei Würze. Kochen war nicht die Stärke der Familie. Oma konnte noch weniger gut kochen als Mutter. Mutter ihrerseits begründete ihr Unvermögen damit, dass es ja nichts gegeben hatte, was man hätte kochen können. Ausserdem war sie der Ansicht, dass man essen musste, um zu überleben, nicht um zu geniessen. Viermal jährlich ging mit Mutter mit Susi zu ihren Eltern in die «Ferien». Die mehrwöchigen Aufenthalte bei Oma und Opa waren für Susi eine Art Strafversetzung.

      Kochen war, wie schon erwähnt für Oma ein Fremdwort. Dennoch versuchte sie es zumindest. In Susi Familie gab es nur sonntags Fleisch. Oma kaufte anlässlich eines Besuches 5 Koteletten. Vater freute sich beim Einkauf sehr. Allerdings hatte er die Rechnung ohne Oma gemacht. Opa ass ja ohnehin kein Fleisch, erst recht nicht solches, das Oma gekauft hatte. Also jeder ein ganzes Kotelett. Susi vergass ihr Leben lang nicht, das enttäuschte Gesicht ihres Vaters, als Oma 4 Koteletten auf den Teller von Jürg türmte, der wie üblich nicht daran dachte mit irgendjemandem zu teilen. Das letzte Kotelett verzehrte Oma selber. Auch die Tränen, die Susi sah, als sie mit ihm alleine war, brannten sich in ihre kleine Kinderseele. Mutters Familie machte eben kein Geheimnis daraus, wen man mochte und wen nicht. Susi und Vater gehörten definitiv nicht dazu.

      Es gab so viele Seltsamkeiten, die den Aufenthalt skurril werden liess. An Heizung wurde gespart, so gut man konnte. Es konnte durchaus vorkommen, dass sich Eis auf dem Küchenboden bildete, wenn jemand etwas verschüttet hatte.