Was, wenn es Vater nicht gegeben hätte?
Nach vielen Tagen vernahm sie plötzlich die Stimme ihres Vaters, der lauthals mit der Schwester debattierte. Das Zimmer war dunkel, aber sie hörte ihn ganz genau und fing an ihrerseits zu rufen. Er musste sie doch hören! Vater kam in das dunkle Zimmer, hob sie aus dem Bett, wickelte sie in ihre Decke und trug sie nach Hause. Sie krallte sich in die Schultern des Vaters. Zu Hause setzte sich Vater erst einmal in einen Sessel und hielt Susi sehr lange auf dem Arm. Langsam entspannte sie sich und schlief in der Geborgenheit seiner Arme ein. Aber jedes Mal wenn er sie in ihr Bettchen legen wollte, erwachte sie und schrie los. Es dauerte Stunden, bis sie endlich so müde war, dass er sie hinlegen und selbst schlafen gehen konnte. Heiri war nun wieder allein im Heim. Susi sah ihn nie wieder.
Geblieben bis zum heutigen Tag ist die Angst. Angst vor dem Alleinsein. Angst davor, in geschlossenen Räumen zu sein, aus denen es kein Entrinnen gibt. Angst, im Dunkeln zu schlafen. Angst, keine Kontrolle zu haben. Angst, Fehler zu machen. Angst, nicht zu genügen. Angst, im Notfall von allen verlassen zu werden. Sie lernte in jener Zeit ebenso nicht zu weinen. Nicht zu rufen. Egal was passierte, einfach still zu sein. Sie hörte auf, mit Menschen mehr als notwendig zu reden. Und behielt es bis zum heutigen Tag bei. Es gab nur wenige Menschen, mit denen Susi redete. Eine Hand voll vielleicht. Ebenso wenigen vertraute sie wirklich. Zwei oder drei vielleicht. Am meisten vertraute sie ihrem Vater und später ihrem Sohn Fionn.
In jener Zeit fokussierte sie ihre Welt auf ihren Vater, Bäri und Wotan. Ihre Mutter war für sie zu unberechenbar geworden. In einem Augenblick war sie nett, im nächsten sprühte der pure Hass aus ihr. Wie jedes Kind wünschte sich auch Susi, von ihrer Mutter geliebt und gelobt zu werden. Mutter konnte es aber nicht, sie hatte es nie gelernt. Susi fühlte die Seelennot ihrer Mutter und liebte sie mit aller kindlichen Macht. Aber ein Echo kam selten. Mit Sicherheit versuchte ihre Mutter es so gut wie möglich zu machen, so viel wie möglich zu geben. Aber es war nicht wirklich viel, was sie zu geben hatte.
Susi war für Jürg nicht wichtig. Er beachtete sie kaum und wenn, dann nur, um ihr zu schaden. Dafür unternahm er alles in seiner Macht stehende. Sie wusste, dass er sehr gemein sein konnte, um nicht zu sagen bösartig. Zu oft hatte sie beobachtet, wie er Tiere zu Tode quälte. Nicht nur unzählige Käfer und Schmetterlinge, die er lebendig auf ein Brettchen spiesste, nein auch Mäuse und andere Tiere, wenn er sie erwischte. Ungerührt von den Schreien der Wesen, lächelnd, als hätte er etwas Liebliches gesehen. Wenn Susi dies ihrem Vater erzählte, wuchs Jürg‘ Zorn ins Unermessliche und er liess die Tiere noch mehr leiden. Auch Bäri blieb nicht verschont von seinen Gemeinheiten. Immerhin blieb Jürg‘ Verhalten konstant. Es gab keine Zeiten, in denen er nett zu ihr war. Er hasste sie und machte keinen Hehl daraus. Die Eltern waren anfangs noch bemüht ein geschwisterliches Verhältnis herzustellen. Ohne Erfolg.
Susi liebte es, in die Schule zu gehen. Kein Jürg, keine Mutter. Die meisten Lehrer mochten sie. Manche erkannten wohl auch die Not ihrer jungen Seele, die in der Schule Ruhe fand. Meistens jedenfalls. Es gab damals, Mitte der 60er-Jahre, noch Prügelstrafe, die sehr schmerzhaft ausfallen konnte. Susi machte nur einmal selbst damit Bekanntschaft. Der Klassenlehrer war krank und als Stellvertreter kam ein alter Lehrer. Man war gerade dabei, das Alphabet schreiben zu lernen und beim Buchstaben K angelangt. Während der Klassenlehrer schon eine modernere Schrift vermittelte, war die Aushilfe noch in einer veralteten Form unterwegs. Der Buchstaben bekam bei ihm einen Buckel. Susi schrieb eine ganze Seite buckliger K.
Als der Klassenlehrer wieder zurück war, musste Susi als erste ihr Heft zeigen. Was war das!? Sie antwortete wahrheitsgetreu, dass der Aushilfslehrer das so verlangt hatte. Der Kopf des Klassenlehrers schien auf doppelte Grösse anzuschwellen. Mit puterrotem Gesicht schrie er sie an, dass er besonders von ihr nicht erwartet hatte, angelogen zu werden. Sie wagte zu erwähnen, dass sie nicht log. Das war zu viel für den Mann. Mit ausgestreckten Armen musste sich Susi hinstellen. Der Lehrer nahm sein berüchtigtes Rohrstöckchen zur Hand. Fünfmal sauste es auf die nach oben weisenden Handflächen. Begleitet von dem zischenden Laut der durchtrennten Luft und dem scharfen Klatschen beim Aufprall. Tatzen nannte der Lehrer dies. Susi zuckte nicht sehr. Sie konnte es nicht ändern, also musste sie es hinnehmen. Gerecht oder nicht. Die Tränen schossen ihr dennoch ungewollt in die Augen. Anita, eine Mitschülerin, fing laut an zu weinen und übergab sich, wie fast immer, wenn jemand gezüchtigt wurde. Johnny sprang auf und schrie: «Es stimmt doch, was sie sagt!» Der Lehrer hielt inne und besah sich die Hefe der anderen. Dann entschuldigte er sich bei Susi. Sie nahm es wortlos zur Kenntnis.
Jener Lehrer wusste von ihrer Legasthenie und war gleichwohl der Meinung, dass sie nur Haferflocken anstelle eines Hirnes hatte. Dennoch schickte er sie, auf Grund ihrer auffallenden Leistungen in allen anderen Fächern, in die Bezirksschule weiter.
Ausser mit Anita und Johnny hatte Susi kaum Kontakt mit Klassenkameraden. Sie traute sich nicht und ausserdem schämte sie sich, seit sie eines Tages mitten im Unterricht in die Hosen gepinkelt hatte. Sie hatte die Lehrerin mehrfach darum gebeten, auf die Toilette gehen zu dürfen. Ohne Erfolg. Irgendwann war es zu spät. Nun durfte sie gehen, begleitet von der Frage, wieso sie denn nichts gesagt habe. Es war ein Spiessrutenlaufen, als Susi, begleitet vom Gegröle und Gejohle einer wildgewordenen Klassenmeute, quer durch das Klassenzimmer zur Toilette ging. Sie wusste nicht, was sie dort noch sollte. Aber die Lehrerin hatte sie geschickt.
Es war Januar, die Kleider klatschnass. Die grosse Pause hatte begonnen und sie mussten immer alle das Gebäude verlassen. Frierend und sich schämend versteckte sie sich so gut es ging vor den Blicken der anderen Kinder. Natürlich war das Ereignis an jenem Tag DIE Sensation auf dem Pausenhof.
Ein Mensch, der sich schämt, ist in jenem Augenblick der einsamste Mensch auf der ganzen Erde, vielleicht sogar im Universum. Es half auch nichts, dass Johnny sie entdeckte und versuchte sie zu trösten. Sie wäre gerne gestorben. Augenblicklich. Endlich zu Hause, getraute Susi sich nicht, ihrer Mutter davon zu erzählen, weil diese schon genug oft schimpfte, wenn sie ins Bett gemacht hatte. Nun auch noch mitten am Tag. Nein. Dann lieber stumm bleiben. Die Kleider waren wieder trocken und am nächsten Morgen gab es ohnehin neue, saubere Kleidung.
Johnny und Paulchen waren die bevorzugten Opfer von Prügelstrafen. Johnny war ein sogenannt unehrliches Kind, ohne Vater, und Paulchens Mutter war mit einem anderen Mann auf und davon. Ihren Ehemann hatte sie mit zwölf Kindern zurückgelassen.
Die Welt war damals schon ausserordentlich ungerecht. Es gab Kinder wie Bernadette, denen alles vergeben wurde, weil ihr Vater ein wohlhabender Architekt war sowie Kinder wie Johnny, die für Bernadettes Taten den Kopf hinhalten mussten.
Wie in jedem Leben gibt es Sonnentage und solche mit Sturm und Gewitter. «Es ist wie ein Rad, manchmal ist man unten im Dreck, dann wieder in einem fröhlichen Ballsaal, aber beides ist nicht von Dauer. Denk immer daran, wenn du keinen Weg mehr siehst», sagte ihr Muëti, als Susi davon erzählte. «Vergiss das nie, egal was kommt.»
Aber es konnte noch viel grausamer kommen. Zum Glück weiss man es nicht vorher. Susi hätte es wohl nicht durchgestanden.
Familie Fürchterlich
Mutter hatte in ihrer Kindheit ein fast so schweres Los gehabt wie Vater als Verdingbub. Ihr Vater, also Susis Opa, war Franzose aus Lothringen. Die Grenzgebiete wechselten zeitweise ihre Landeszugehörigkeit wie andere ihre Unterwäsche. Mal Frankreich, mal Deutschland. Auf jeden Fall fühlte Opa sich als Franzose. Ende der Debatte. Er ein Deutscher? Um keinen Preis.
Oma stammte aus Polen und hatte Opa mit 17 Jahren kennengelernt, als sie im Rahmen ihrer Ausbildung als Schneiderin auf der Stör in den Ort kam, in dem Opa lebte. Kurz darauf musste Opa Oma heiraten, alles andere wäre zu jener Zeit ein absolutes Tabu gewesen. Fünf Monate später kam ein strammer «zu früh» geborener Sohn zur Welt. Ein Weihnachtskind sozusagen. Am 24. Dezember. Es folgten