Tante Lilians Küche hatte einen Fliesenboden und in der Mitte des Raumes stand ein großer Gusseisenherd. Gleich davor befand sich das Körbchen von Charlie, der sich dort zusammengerollt hatte, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass weder Aveline noch ihre Mutter für die Post arbeiteten. Durch die Küche gelangte man ins Wohnzimmer. Hier sah man sofort Tante Lilians ausgeprägten Sinn für Ordnung, der weit über ein normales Maß hinausging. Denn von den Lampen bis zu den Sofakissen war alles fein säuberlich wie mit dem Maßband ausgerichtet.
Tante Lilian führte sie die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Ihre lange, dünne Gestalt warf bizarre Schatten auf die weißen Wände. Hinter ihr mühte sich Aveline damit ab, ihren schweren Koffer die Stufen hinaufzuwuchten.
»Du bist zum ersten Mal hier, oder?«
»Ja.«
»Nun, du musst wissen, dass dieses Cottage im späten 18. Jahrhundert gebaut wurde«, erklärte Tante Lilian und klang dabei wie eine Fremdenführerin, die Besucher durch eine mittelalterliche Burg führt. »Und weil das Haus so alt ist, hat es ein paar Macken, an die du dich gewöhnen musst. Eine davon ist die Heizung. Sie ist recht unzuverlässig, daher habe ich ein elektrisches Heizgerät in deinem Zimmer aufgestellt, das du aber bitte nur sparsam benutzen solltest. Im Schrank findest du ein paar zusätzliche Decken, die sind natürlich sehr viel kostengünstiger. Ich lasse dich jetzt allein, damit du auspacken kannst – Socken und Unterwäsche kommen in die erste Schublade, Oberteile in die mittlere und Hosen in die untere. Oberbekleidung und Schuhe kannst du im Schrank aufbewahren, aber schmutzige Schuhe und Stiefel bleiben neben der Haustür. Wenn du fertig bist, kannst du zu uns runterkommen.«
Aveline hätte am liebsten gefragt, zu welcher Uhrzeit die Inspektion stattfinden würde, aber sie schluckte die Bemerkung herunter. Sie hatte schon immer gewusst, dass ihre Tante streng war, aber dass sie ihr jetzt auch noch vorschrieb, wie sie ihren Koffer auszupacken hatte! Trotzdem sortierte Aveline ihre Kleider pflichtbewusst in die richtigen Schubladen ein. Was für ein seltsamer Beginn ihrer Ferien am Meer, dachte sie und überlegte, wie sie bloß die nächsten Tage überstehen sollte, wenn ihre Tante sie von früh bis spät herumkommandierte.
Als sie fertig war, widerstand sie der Versuchung, das Fenster aufzureißen und laut um Hilfe zu rufen, und gesellte sich zu ihrer Mutter und ihrer Tante nach unten. Sie aßen etwas Lasagne, die Tante Lilian in akkurat aufgeteilten Portionen servierte, und setzten sich dann ins Wohnzimmer. Die beiden Schwestern tauschten Neuigkeiten aus, während Aveline – da keine Aussicht auf Rettung durch Fernseher oder Internet bestand – einer Freundin eine Nachricht zu schicken versuchte. Aber der Empfang war so schlecht, dass sie schließlich aufgab. Erleichtert stellte sie fest, dass im hintersten Eck des Wohnzimmers ein Computerbildschirm auf einem Tisch stand. Aveline hätte es nicht verwundert, wenn ihre Tante sich ausschließlich per Telegramm mit der Außenwelt verständigte. Die Zeit zog sich zäh dahin, bis Aveline ihr Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. Morgen würde sie sich eine Beschäftigung suchen müssen, sonst würde sie hier durchdrehen.
»Wie ich sehe, hat die Seeluft ihre Wirkung getan«, sagte ihre Tante. »Besser als heiße Schokolade oder Kamillentee. Seit ich hierhergezogen bin, habe ich noch keine Nacht schlecht geschlafen. Ich frage mich, wie ihr überhaupt je ein Auge zutun könnt in der Stadt, wo die ganze Nacht der Verkehr dröhnt.«
Hinter Tante Lilians Rücken verdrehte Avelines Mum die Augen. Aveline grinste, aber sofort dachte sie daran, dass ihre Mum morgen zu ihrer Großmutter fahren und sie allein hier zurückbleiben würde.
»Okay, ich geh dann jetzt ins Bett. Gute Nacht«, sagte Aveline. Wenn sie ohnehin nur mit Nichtstun beschäftigt war, dann konnte sie genauso gut im warmen Bett nichts tun.
»Gute Nacht, Aveline«, sagte Tante Lilian, dann fügte sie hinzu: »Oh, und wundere dich nicht, wenn du nachts seltsame Geräusche hörst. Das sind nur die Launen eines alten Hauses.«
»Oder ich, wenn ich schnarche«, murmelte Avelines Mum. »Ich werde jetzt auch schlafen gehen, Lilian, mir fallen schon die Augen zu.«
»Ich mache dir hier ein Bett vor dem Feuer zurecht«, antwortete Tante Lilian.
»Gute Nacht, Mum«, sagte Aveline.
»Gute Nacht, mein Schatz. Wir sehen uns morgen, bevor ich aufbreche.«
Bevor ich aufbreche.
Als Aveline die Treppen hinaufstapfte, fühlte sie sich plötzlich sehr allein. Draußen heulte der Wind und die Sturmböen ließen das kleine Haus erzittern. Aveline putzte sich hastig die Zähne – die Temperatur im Bad entsprach ungefähr der eines Iglus –, bevor sie in ihr Zimmer huschte. Mit einem Satz hüpfte sie ins Bett, wickelte sich fest in die Decke und schloss die Augen.
Anders als Tante Lilian es vorausgesagt hatte, fand Aveline es hier an der Küste viel lauter als zu Hause. Das Rauschen des Verkehrs, das in Bristol die ganze Nacht anhielt, hatte immer etwas Tröstliches – es waren die Geräusche von Leuten, die geschäftig ihre Dinge erledigten. Hier war es ganz anders. Da waren die donnernde Brandung. Der heulende Wind. Salzige Tropfen, die an die Fensterscheiben klopften. Kein menschengemachter Lärm, sondern das Tosen der Naturgewalten. Aveline kam sich klein und sehr verletzlich vor.
Gerade als sie in den Schlaf hinüberglitt, hörte sie ein Lachen. Ein spöttisches Glucksen, wie von einem Kind, irgendwo in der Dunkelheit der Nacht. Aveline hob den Kopf und lauschte angestrengt in die Stille. Unwillkürlich musste sie an die Vogelscheuche an der Gartenmauer denken. Was, wenn sie um Mitternacht zum Leben erwachte? Schlurfte sie gerade in diesem Moment auf das Haus zu? Aveline hatte das unheimliche, kalte Prickeln im Nacken nicht vergessen, das sie beim Anblick der schaurigen Gestalt verspürt hatte. Aber dann ermahnte sie sich, wie albern sie doch war. Ihre Mum würde ihr jetzt bestimmt wieder einmal sagen, dass sie zu viele gruselige Bücher las. In der echten Welt gab es keine Vogelscheuchen, die plötzlich lebendig wurden. Nichts und niemand konnte ihr etwas antun. Sie war hier sicher.
Fröstelnd streckte sie sich wieder aus und zog die Bettdecke so weit nach oben, wie sie konnte, ohne völlig darunter zu verschwinden.
Sei nicht kindisch.
Wahrscheinlich war es nur eine Möwe oder ein quietschendes Heizungsrohr gewesen – ihre Tante hatte sie ja vorgewarnt.
Dann spülte der Schlaf über Aveline hinweg wie eine seichte Welle.
Kapitel 2 Bücherboy
Am Morgen verabschiedete sich Aveline von ihrer Mutter.
»Keine Sorge, ich komme bald wieder, um dich zu retten«, flüsterte ihre Mum ihr ins Ohr und drückte sie.
Aveline hielt ihre Mutter noch ein bisschen länger fest, bevor sie losließ. Sie spürte Tante Lilians Blick auf sich und es graute ihr vor den nächsten Tagen, aber das musste ihre Tante ja nicht wissen.
In diesem sonderbaren alten Haus voller strenger Regeln kam Aveline sich vor, als wäre sie in die Vergangenheit zurückkatapultiert worden. Ihre Tante gehörte zwar zur Familie, aber sie waren noch nie zuvor nur zu zweit gewesen. Allein die Vorstellung war beklemmend und Aveline fühlte sich schon jetzt wie eingesperrt. Außerdem sah es ganz danach aus, als wären ihre Möglichkeiten zur Freizeitbeschäftigung hier sehr begrenzt. Mit triumphierendem Unterton in der Stimme hatte Tante Lilian verkündet, dass der Handyempfang an der Küste sehr unzuverlässig sei. Aveline wünschte, sie hätte das früher gewusst, dann hätte sie ein paar Bücher zum Lesen mitgebracht. Natürlich durfte sie den Computer benutzen, allerdings nur eine halbe Stunde am Tag. Längere Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen, sei schädlich, hatte Tante Lilian erklärt, und das in einem Tonfall, der verriet, dass sie allgemein nicht besonders viel vom Internet hielt.
»Ich werde heute Vormittag einen Abstecher in den Ort machen. Möchtest du mitkommen, um Stormhaven zu erkunden?«, fragte Tante Lilian, nachdem Avelines