Bei uns in Detmold wollte nun Willy Brandt zur Nation sprechen. Ja, für mich war Detmold Nabel der Welt. Also musste ich etwas tun. Ich kam zu meiner ersten politischen Aktion. Der Vater eines Kumpels von mir war Küster der Marktkirche. Über ihn besorgten wir uns den Schlüssel für den Glockenturm, auf den wir dann etwa eine halbe Stunde vor der Kundgebung stiegen. Von dort hatte man eine herrliche Aussicht, insbesondere über den Marktplatz. Und nun erwarteten wir Willy Brandt in Detmold, unserer kleinen Beamtenstadt am Rande des Teutoburger Waldes. Aber wir hatten einen Logenplatz. Mit erheblicher Verspätung, wie sollte es auch anders sein, für solche unsicheren Kandidaten, kam Willy Brandt. Dass auch damals schon durchaus auch mal Pannen oder verkehrsbedingte Störungen auftraten wurde natürlich nicht zur Entlastung eines Gegners angeführt sondern man suchte so etwas eben negativ anzulasten. Also nachdem Willy erst das wartende Publikum beruhigt hatte, fingen wir von oben, vom Turm zu pfeifen an.
Was war das für eine Zeit? Es mag das Jahr 1957 gewesen sein; ich muss also 11 Jahre alt gewesen sein. Aber ich war schon politisch durchaus interessiert, weil ich eben, wie gesagt, von meinem Vater am Rande immer ein bisschen das politische Tagesgeschehen mitbekam. Man war zwar politisch anderer Meinung, aber als Kind rennt man ja zunächst mit der Meinung der Eltern los, weil man sich noch gar keine eigene Meinung bilden kann. Es fehlte einfach die Kritikfähigkeit.
Zum Heute hat sich viel geändert, denn heute geht ohne die Einbindung der Kinder in irgendwelche Entscheidungen gar nichts. Es geht teilweise gar so weit, dass man sich als autoritär erzogener, heute älterer Mensch, manchmal fragt, ob es nicht manchmal schon zu weit geht weil man den Eindruck gewinnen kann, dass die Kinder die Macht schon übernommen haben. Als Kinder gingen wir zur Schule und hatten unsere Schularbeiten zu machen. Am nächsten Tag wurde überprüft ob wir unsere Schularbeiten gemacht hatten. Es war also ein rundum autoritär geprägtes Leben. Ob das so richtig war darüber streiten sich heute noch die Gelehrten, denn Pisa-Studien gab es noch nicht und insofern fehlen belegbare Zahlen.
Ich jedenfalls weine diesem alten System keine Träne nach, auch, wenn es heute oft zeitraubend und aufwändig ist, in Diskussionen etwas zu erklären, so ist es doch völlig in Ordnung, und diese Zeit nehme ich mir gern. Wir stehen im Heute und es hat sich wahnsinnig viel geändert und die jungen Leute müssen sich diesen Veränderungen in Windeseile anpassen, sonst werden sie von der Entwicklung überrollt. Für mich gibt es an dieser Stelle zwei Möglichkeiten: Entweder vergleiche ich das Gestern mit dem Heute und versuche eine Bewertung oder ich versuche einen Rückblick. Da mir die wissenschaftlichen Voraussetzungen für einen Vergleich fehlen, werde ich den Rückblick in die alte Zeit wagen.
Kindertage in Detmold
Damals waren die Sommer noch Sommer und die Winter noch Winter. Kaum war der Schnee gefallen standen wir mit dem Schlitten an der Tür eines Kumpels, um dann gemeinsam den Berg direkt auf der Straße herunter zu fahren. Ja auch das ging damals.
Bei der Gelegenheit fällt mir ein, ich war schon lange nicht mehr in Detmold. Aber wenn dieses Buch geschrieben ist, werde ich Detmold, werde ich meine alten Stätten mal wieder aufsuchen. Ja, ich wette, dass ich mich auch heute, 50 Jahre später auf Anhieb wieder zurecht finden werde. Ich weiß nicht mehr wie die Kreuzung heißt, aber es gibt da ein Palais an dem ein Bach vorbei fließt, da ist (zumindest war) auch eine Musikhochschule und die Straße mündet in eine Kreuzung an der immer noch die letzte Ampel hing. Ampel sagt man ja heute immer fälschlicherweise zu einer Lichtzeichenanlage, aber eigentlich war eine Ampel ein großer viereckiger, überdachter Kasten mit vier leicht schräg zur jeweiligen Fahrbahn geneigten Flächen. Und dieser Kasten hing in der Mitte über einer Kreuzung. Auf jeder der vier Flächen lief ein Zeiger. Stand der Zeiger senkrecht auf Rot, so war auch auf der gegenüber liegenden Seite rot. Für die einmündenden Straßen stand der Zeiger dann waagerecht auf Grün und die Fahrzeuge hatten freie Fahrt. Imposant, aber ungenau, denn es gab keine Gelbphase und dadurch würde es heute laufend krachen.
Jedenfalls lief man von dieser Kreuzung aus halb rechts, gegenüber in die Lange Straße die auf den Markt zu lief und dann im weiteren Verlauf kam man auf eine Eisenbahnbrücke zu. Auf der rechten Seite kam man an einem altehrwürdigen Versicherungsgebäude vorbei, das groß mit der Lippischen Rose geschmückt war. Aber egal, diese Straße führte auch am Markt vorbei. Linke Seite war der Markt, die Marktkirche und der Kirche gegenüber lag das Kaufhaus Sonntag. Ich habe mal eben gegoogelt, denn heute kann man sich ja schnell mal mit der modernen Technik einen Überblick verschaffen. Und bei der Gelegenheit habe ich den Straßennamen sehr gut zuordnen können. Ja, ich fand mich sehr gut wieder zurecht. Also Detmold – ich komme, aber ohne Mutprobe.
Kaufhaus Sonntag, meine erste und einzige (blöde) Mutprobe. Blöde, weil Mutproben immer blöde sind. Die Spielwarenabteilung war über eine alte, knarrende Holztreppe, oben im zweiten Stock zu erreichen. Irgendeinem Freund hatte ich dann berichtet, dass die im Kaufhaus Sonntag mit Siku und Wikinger Autos gut aufgestellt sind und dass ich mir unbedingt mal eine BMW-Isetta kaufen wollte. In natura ein interessantes Gefährt. Die Tür, hinter der zwei Personen und ein Kind Platz nehmen konnten, ging nach vorne auf. Das Lenkrad wurde hochgekippt und dann ging die Tür auf. So ein Ding wollte ich mir als Modell zulegen. Das hatte ich meinem wohlmeinenden Kumpel gesagt. Und der sagte dann, dass er bei Sonntag schon mal zwei oder drei Autos habe mitgehen lassen das sei gar nicht so schwer. Ein Wort gab das andere und schon war ich in der Pflicht – Mutprobe. Wäre ich allein da hoch gestiefelt wäre das wahrscheinlich gar nicht aufgefallen aber so schlichen zwei nervöse Buben immer um die Modellautos herum, das musste ja auffallen. Jedenfalls wurden wir beobachtet. In einem Moment, in dem ich mich unbeobachtet wähnte, griff ich zu, aber die Verkäuferin hatte das aus den Augenwinkeln gesehen und sagte: „Halt!“ So, jetzt aber schnell weg, die Treppe runter und die Verkäuferin hinter uns her, sie rief: „Haltet den Dieb.“ Oje, alles schoss mir durch den Kopf was würde mein Vater dazu sagen, sein Sohn ein Verbrecher! Vor allem: Das gibt einen fürchterlichen Hintern-voll. Aber umdrehen? Zurück? Zurückgeben? So viel war für mich klar ohne Jurist sein zu müssen, das wäre ein Schuldeingeständnis – Folge, Hintern-voll – Fazit: Flucht! Die Flucht gelang aber ich fühlte mich ganz sicher nicht als Held, denn nun konnte ich ja von Zeugen erkannt werden, meine Eltern angesprochen werden, tagelang plagte mich das schlechte Gewissen, tagelang traute ich mich nicht richtig aus dem Haus.
So viel zur Umgebung der Marktkirche in Detmold und zum Randgeschehen, vor meiner ersten politischen Aktion. Aber bei dieser politischen Aktion war es im Gegensatz zu der Mutprobe so, dass wir dort oben nicht erkannt werden konnten. Innerlich war mir schon damals der Willy Brandt eigentlich sympathisch er war doch im Grunde die Verkörperung des Widerspruchs zu meinen Eltern, also was hatte ich gegen ihn. Denn gerade an den Eltern übt man sich als Kind meistens im Widerspruch. Nur, damals war der Widerspruch eines Kindes in erster Linie Ungehorsam, also bestrafungswürdig und Ohrfeigen oder Stockschläge waren auch bei uns durchaus übliche Erziehungsmittel.
Meine Mutter zum Beispiel aus heutiger Sicht betrachtet, war sie damals durchaus noch nicht so ganz in der Demokratie angekommen. Und Menschen mit einer anderen Hautfarbe waren ja Menschen vor denen man sich in Acht nehmen oder fürchten musste. Immer wieder berichtete sie von meiner Tante und einem schwarzen US-Soldaten, vor dem sie und ihre Schwester, wohl gewaltige Angst hatten. Und gerade weil meine Mutter nicht zu überhörende Vorurteile gegen Menschen mit schwarzer Hautfarbe hatte, hatte ich mich damals vor der Tischlerfachschule in Detmold aufgebaut. Ich wusste, dass dort auch aus Afrika stammende, schwarze Studenten eine Ausbildung machten. Also dachte ich, dass ich meiner Mutter einmal zeigen wollte, dass das genau solche Menschen waren wie du und ich. Also stellte ich mich vor der Tischlerfachschule auf und wartete. Als dann ein ziemlich dunkelhäutiger Mann heraus kam ging ich auf ihn zu und lud ihn zu uns zum Kaffee ein. Ich weiß es noch wie heute, der Mann hieß Eguno und kam von der Elfenbeinküste. Ja und dann ging ich nach Hause und dort erzählte ich meiner Mutter, dass wir demnächst internationalen Besuch zum Kaffeetrinken erwarten. Es kam wie es