Immortality of Silence. Lena Victoria. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Lena Victoria
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347125247
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Erinnerungen befreite. »Es ist ok, falls du es dir doch anders überlegt hast.«, versuchte er mich zu beruhigen. »Ist alles in Ordnung?« Ich nickte. Zurück in der Realität fiel mein Blick auf das dunkelblaue Armband auf dem ein rechteckiger silberner Stein angebracht war, das ich um mein Handgelenk gebunden hatte. »Dieses Armband hat Noah mir geschenkt.«, warf ich in die eisige Stille, während ich nervös an dem blauen Band zu zupfen begann. Mit einem betrübten Gesichtsausdruck blickte Joris von meinem Schmuckstück zu mir auf und riet mir: »Willst du es nicht lieber abnehmen? Denkst du nicht, dass es dir damit noch schwerer fällt, mit den ganzen schrecklichen Erinnerungen klarzukommen?« »Die Erinnerungen waren nicht alle schrecklich. Ich werde es sicher nicht abnehmen.«, entgegnete ich erzürnt. »Ich glaube daran, dass – solange ich sein Armband bei mir trage – sein Geist bei mir ist, um mich zu all den magischen Orten, wohin mich meine Reise auch immer führen mag, zu begleiten.«

      Joris nickte mir verständnisvoll zu bevor er antwortete: »Du hast recht – trag es.« Ich lächelte. »Du sollst meine Texte lesen.«, wechselte ich daraufhin, ohne eine Bedenkzeit einzulegen, das Thema. »Allerdings sind die Gedanken, die ich in diesem Block niedergeschrieben habe, sehr privat. Ich habe viele düstere Geschichten erzählt, um mit meinen erdrückenden Emotionen klarzukommen.« Joris schenkte mir ein aufmunterndes Lächeln. »Mir wurde gerade bewusst, dass ich lieber nicht dabei sein will, wenn du diese finsteren Teile von mir zu Gesicht bekommst.«, erklärte ich meine Panik. »Wenn du nur die Gemälde sehen könntest, die ich in meinen dunkelsten Stunden gemalt habe.«, gab mein Freund schmunzelnd zurück. »Deine düsteren Gedanken können mich nicht so schnell schockieren. Ich will alle Teile von dir kennenlernen.« Seine Worte erfüllten mein gefrorenes Blut wieder mit Wärme. Eine halbe Minute lang hielten wir einen sehr innigen Augenkontakt. Plötzlich wurde mein Herzschlag ein weiteres Mal ohrenbetäubend laut, obwohl Joris das Geräusch gar nicht zu bemerken schien.

      Sein durchdringender Blick gab mir das Gefühl, als könne er in mein Unterbewusstsein blicken und all die Dinge freilegen, die ich all die Zeit bemüht war, zu vergraben. Mein Blick schweifte auf den Parkettboden unter unseren Füßen. Einen Moment später glänzten mich zwei strahlende haselnussbraune Augen vom Boden aus an. Es waren meine Augen. Das Gemälde, das Joris von mir gemalt hatte, war zwischen den Seiten des Verstecks meiner düsteren Gedanken herausgefallen. »Ich habe ganz vergessen, dass ich dein Bild hier drinnen aufbewahrt habe.«, erklärte ich, während ich die Zeichnung ohne zu zögern wieder aufhob. Ich starrte auf eine makellose Schönheit. »Wie gern würde ich nur dieses Mädchen sein.«, murmelte ich gedankenversunken. »Das bist du.«, entgegnete Joris verwundert. »Aber ich erkenne mich nicht.«, erklärte ich ihm. »Aber ich.«, gab mein Freund entschieden zurück.

      Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander auf meinem Bett. Ich spürte den Blick meines Freundes auf mir während ich noch immer auf die detaillierten Pinselstriche auf dem Papier in meinen Händen starrte. »Wie lange hast du dafür gebraucht?«, durchbrach ich schließlich die Stille. »Eine ganze Nacht.«, gab er zurück. »Und wann hast du geschlafen?«, fragte ich ihn verwundert. »Schlaf ist überbewertet.«, zwinkerte er mir grinsend zu. Ich schmunzelte. Ein weiterer inniger Blickkontakt folgte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Ich konnte mir meine plötzlich auftretende Nervosität nicht erklären. Schnell wich ich seinem Blick wieder aus. »Kamilla.«, ertönte die besorgte Stimme meines Freundes. »Du blutest.« Er wischte das Blut mit seinem Finger von meiner Unterlippe. Seine Berührung hinterließ ein wunderschönes warmes Gefühl in mir, das sich nach mehr sehnte. »Ja«, gab ich flüsternd zurück. »Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir.« »Ich weiß.«, entgegnete Joris mit funkelnden Augen, die mich nicht mehr loszulassen schienen. Plötzlich überkam mich ein unergründlicher Drang, so schnell wie möglich aus dieser Situation zu fliehen. »Es ist schon spät.«, sprudelten die Worte aus mir. »Es wäre wohl besser, wenn du jetzt gehst.« Joris musterte mich einen Moment verunsichert, bevor er mir antwortete: »Ok, dann sehen wir uns morgen?« Ich nickte. Der Junge stand auf und verschwand mit dem bezaubernden Abbild von Gamla Stan hinter der Tür. Es fühlte sich an als hätte ich ihm damit ein Stück meiner Seele übergeben.

      Ich schloss die Tür hinter ihm. Ich ging zurück zu meinem Bett, setzte mich auf meine weiche Matratze und starrte ein weiteres Mal auf den Parkettboden unter meinen Füßen. Manchmal verstehe ich mich selbst nicht. An diesem Abend dauerte es einige Zeit bis ich vor meinen aufwühlenden Gedanken in das beruhigende Gefühl der Inexistenz des Schlafes fliehen konnte. Durchdrang Joris in diesem Moment meine persönlichsten Gedanken?

      Mein Wecker klingelte. Mein Kopf dröhnte. Mein Körper signalisierte mir weiterzuschlafen und die täglichen Arbeitspflichten zu ignorieren. Warum muss jede Packung Zigaretten eine Aufschrift für die wahrscheinlich gesundheitlichen Folgen enthalten, doch ein Warnhinweis zu den Folgen tagtäglicher moderner Sklaverei – wie permanenter Stress und Schlaflosigkeit – ist nirgendwo zu finden. Ich bin mir sicher, dass der pausenlos ansteigende Arbeitsdruck genauso schädlich ist wie eine Zigarette – unscheinbar eingehüllt in einer Rolle Papier – fertig abgepackt für das erleichterte Einführen zum Verkürzen seiner Lebenszeit. Wieso steckt die Menschheit so viel Arbeit in die Herstellung von umwelt- und gesundheitsschädlichen Produkten? Seht euch doch einmal in unserer Welt um – bevor wir unseren eigenen Lebensraum vernichtet haben.

      Trotz meines langen Grübelns über die Sinnhaftigkeit der Arbeit stand ich eine halbe Stunde später, sowie auch jeden anderen Tag, mit einem von Müdigkeit gekennzeichneten Gesichtsausdruck hinter dem Tresen unserer Bar. Als die Eingangstür voller Wucht aufgeschlagen wurde richtete ich meine Aufmerksamkeit von den zu reinigenden Weingläsern auf diese. Joris marschierte energisch auf mich zu. Ich musterte seine von Freude erfüllte Miene. »Wo hast du denn diese ganze Energie her?«, bat ich meinen Freund um Rat. »Ich würde gerade wirklich dringend auch etwas davon benötigen.« Joris hörte nicht auf zu grinsen. »Ich habe etwas für dich.«, erklärte mein Freund mir. Auf seiner blassen Haut erkannte ich Ansätze von lebendigeren Farbtönen. »Vielleicht schenkt es dir sogar ein wenig Energie oder eine bessere Laune – hoffe ich.«, fügte der Junge hinzu. Ich sendete ihm neugierige Blicke. Joris zog ein Blatt Papier aus seinem Rucksack und platzierte es vor mir auf dem Tisch. »Ich hoffe es gefällt dir.«, hörte ich seine dunkle Stimme in mir nachhallen, während ich voller Begeisterung in der traumhaften Atmosphäre dieses Gemäldes entschwand. Auf dem Bild erkannte man die Silhouette eines Mädchens mit braunem langem Haar, das auf ihrem Handgelenk ein dunkelblaues Armband mit einem rechteckigen silbernen Stein trug. Die zierliche kleine Figur stand inmitten märchenhaft beleuchteter Gebäude in den Straßen von Gamla Stan. Ich fiel ihm in die Arme. »Ich danke dir.«, murmelte ich in seine nach Salzwasser duftenden Haare. »Es ist so wunderschön.« Ich spürte, wie er mit seiner Hand meinen Rücken streichelte, bevor ich ihn wieder losließ. Er hatte es tatsächlich geschafft, mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. »Und zu deinen Geschichten.«, fuhr mein Freund fort und legte mein kleines Buch neben dem Gemälde auf den Tisch. »Du kannst wirklich gut schreiben Kamilla. Du hast ein wahnsinniges Talent. Deine Geschichten haben mich eingesaugt und bis zum Ende nicht mehr losgelassen.« Meine Augen glänzten. »Du solltest deine Geschichten veröffentlichen.«, machte mein Freund mir Mut. »Falls dir die Gedanken, die du beschrieben hast, zu düster und zu privat erscheinen, schreib etwas Neues – such dir etwas Positiveres aus deinem Leben.« Joris überlegte einen Moment, bevor er schließlich mit einem Grinsen hinzufügte: »Schreib etwas über mich.« Ich schmunzelte, doch schüttelte den Kopf – in Gedanken bei all den schönen Gefühlen, die er in mir auslöste.

      Mir war nicht bewusst, dass Joris ab diesem Tag andauernd über neuen Ideen für traumhafte Gemälde der Reisen des Mädchens mit dem blauen Armband grübelte.

      In der darauffolgenden Woche kam der Junge ein weiteres Mal mit einem breiten Grinsen in unsere Bar. Mein Freund legte eine neue bezaubernde Malerei vor mir auf den Tresen. »Du hast mir vor ein paar Wochen ein Video über diesen magischen Ort in Auckland gezeigt.«, hatte Joris mir seine Hintergrundwahl erklärt. »Das hast du dir gemerkt?«, fragte ich verblüfft, während mich der Zauber des Gemäldes einsog. Diesmal war das zierliche braunhaarige Mädchen auf Erkundungstour in einer außergewöhnlichen dunklen Höhle voller kleiner Lichter, die den kleinen rechteckigen silbernen Stein auf ihrem Armband zum Erleuchten brachten. Umringt von zahlreichen Glühwürmchen marschierte die Figur durch eine Traumwelt, die mich aus meinem eigenen grauen