»Na. Dann lass uns weiter machen, komm«, sagte Katharina und ging voran.
Bevor sie nach Lußheim hinüberwanderte, um das Eichenlaub zu sammeln, wollte sie erst noch einmal bei Hartmann Baumann vorbeischauen. Barbara ging am östlichen Zollhaus vorbei, wo zwei Schweizer Kaufleute sich die Geleitzeichen ausstellen ließen, und bog in die Gemeindegasse ein. Nach wenigen Schritten langte sie bei dem Haus an, in welchem der junge Lehrer zur Miete wohnte. Auf der linken Seite, gegenüber vom Dorfplatz, kauerte es zwischen schiefen Fachwerkhäusern mit schwarzen Flecken auf ehemals weißem Verputz. Barbara betrat den Hof und stieg die hölzerne Außentreppe hinauf. Gestank nach Kot wehte um die Hausecke, hinter welcher die Schissgrube lag, mischte sich mit den Ausdünstungen des Viehs aus den Stallungen weiter hinten im Hof.
Sie hielt vor Baumanns Tür und pochte. Die Treppe führte noch weiter hinauf ins Dachgeschoss, wo sich Vorratsräume der Hausbesitzer befanden.
»Herein«, hörte sie und trat ein.
»Frau Heilmann!«, grüßte Baumann.
»Das trifft sich gut!«, rief Friedgard. Er sprang auf, nickte ihr zu und zeigte auf den Leinenverband an Baumanns Hals. »Er sagt, die Wunde zwackt.«
Barbara freute sich, ihn zu sehen. Sie trat zu den beiden an den Tisch und legte ihren Leinenbeutel ab.
»Das ist naturgemäß«, sagte sie.
»So, alter Zuchtmeister, da hörst du es.« Friedgard sandte seinem Freund, der sitzen geblieben war, ein schalkhaftes Grinsen. »Brauchst gar nicht ächzen wie unter der Marter. Du kommst zu Kräften, kannst bald wieder Schule halten.« Er begann, in der Stube umherzugehen.
»So ist es«, sagte Barbara schmunzelnd.
»Aber auf Dauer wird’s in deinem Loch zu eng«, stellte Friedgard fest, blieb stehen und wies auf drei Holzbänke, die in einer Ecke des Zimmers zusammengeschoben standen. »Rück die auseinander, pferch auf jede fünf Sprösslinge und du kannst hier drinnen keinen Furz mehr lassen!«
Barbara sah sich in dem kleinen Zimmer um. Dunkle, alte Balkendecken mit quer zu den Balken verlegten Holzbohlen ließen es düster erscheinen. Es gab den Tisch, drei Stühle, eine große Truhe und ein Wandbord, auf dem Becher, Holzteller und Töpfe untergebracht waren. Ein kleiner Ofen sorgte für mäßige Wärme, im Weidekorb daneben lagen Holzscheite. Durch das Fenster sah man das Fachwerk des Nachbarhauses. Von dort drang Gestank nach Unrat herein, der zwischen den Häusern vor sich hin faulte.
Von ihren beiden vorhergehenden Besuchen wusste sie, dass der Blick aus dem anderen Fenster, jenem in Baumanns angrenzender Schlafstube, angenehmer war. Es ging auf die Gemeindegasse und den Dorfplatz hinaus, wo man die Dorflinde sehen konnte. In Baumanns Schlafkammer standen Regale, auf welchen der Lehrer seine Bücher und Schriften verwahrte. Sie zurrte ihren Beutel auf und entnahm ihm den Salbentiegel und neue Leinenverbände.
Baumann deutete auf die gezimmerte Kiste am Boden, in der er allerlei Lehrreiches für seine Schüler aufbewahrte, wie sie von Friedgard wusste. Der Lehrer hegte eine Neigung für das Tier- und Pflanzenreich und sammelte Dinge wie verpuppte Raupen, leere Vogeleier oder den Kadaver einer verendeten Eule. »Wenn ich die hier öffne und auspacke, solltet Ihr den Tumult erleben, den das unter meinen Schülern verursacht. Die Stube platzt dann wahrlich aus allen Nähten, wenn sie sich aufgeregt drängen, damit auch keiner etwas verpasst. In Summa …«
»Magister Baumann braucht ein Schulhaus!«, ergänzte Friedgard.
Ein Schulhaus? In diesen Zeiten, da die Preise für das, was man zum Leben brauchte, ständig stiegen? Roggen, Weizen und Hafer waren doppelt so teuer als in ihrer Jugendzeit. In Speyer klagten die Menschen, dass Roggen und Weizen gar das achtzehnfache des früheren Preises ausmachten und dass Kalbsfelle achtmal so teuer seien wie ehemals. Die Menschen kamen kaum über das Jahr und Baumann wollte ein Haus eigens zum Zweck des Unterrichts? Es wäre mit Fron instand zu halten und für die Beheizung hätte die Gemeinde selbst zu sorgen. Der Kirchenrat in Heidelberg hatte den Lehrer in diesem Jahr zum dritten Mal im Amt bestätigt. Barbara wusste nicht genau, wie hoch seine Besoldung war, die von den Bürgern, den Schülern sowie der Fauthei Kißlau, die dem Hochstift Speyer unterstand, getragen wurde. Brennholz und Korn bekam er zudem. Man achtete den jungen Mann, dennoch gab es immer wieder Stimmen, die Lesen lernen als unnütz verteufelten, selbst wenn der Lehrer es anhand des Katechismus lehrte. Jenen, die immer alles so lassen wollten wie es war, mochte es zudem ein Dorn im Auge sein, dass nicht mehr der Pfarrer diesen Dienst versah, sondern eigens ein Lehrer dafür abgestellt wurde, der zudem von ihnen bezahlt werden musste, und der sein Vieh, so er denn welches hatte, ebenfalls auf der Allmende grasen lassen durfte. Sie selbst hatte das Lesen noch beim alten Pfarrer Henerich in dessen Wohnstube gelernt.
»Was sagt Ihr, Frau Heilmann?«, fragte Friedgard mit jener Begeisterung, die sie an ihm mochte.
Sie lächelte ihn an und sagte: »Wer soll es bezahlen?«
»Wir haben nächtelang darüber gesprochen, Hartmann und ich. Wir werden mit Pfarrer Eigner reden und mit Würth. Die Kosten wären aus Kirchengefällen zu tragen.«
Dem Schultheiß traute sie zu, dass er der Sache zugeneigt war. Würth hielt viel von Bildung. Aber Eigner? Wie sie den Geizhals kannte, würde der sich dafür aussprechen, Hockenheims Kinder auf dem Dorfplatz zu unterrichten. Bei Wind und Wetter. Der war sicher der Meinung, das sei gut für calvinistische Zucht und Sittenstrenge.
Sie bedeutete Baumann, den Kopf nach vorne zu neigen.
»Was haltet Ihr also davon?« Friedgard setzte sich.
»Gut«, antwortete sie. Vorsichtig wickelte sie den alten Verband von Baumanns Hals. »Es wird ziepen, aber das kennt Ihr ja schon.«
Baumann machte eine Geste mit der Hand, Nicken bereitete ihm Schmerzen.
Friedgard schwieg und sah ihr zu. Einen Augenblick war es ruhig in der Stube. Dann fragte Baumann unvermittelt: »Wie lange gebt Ihr mir noch?«
Es war scherzhaft gemeint, doch Barbaras Hände verharrten mitten im Tun. Zu oft und zu bösartig – sie konnte diese Frage nicht mehr hören.
Baumann merkte, dass er unbedacht gewesen war. »Ich wollte Euch nicht kränken, verzeiht. Aber Friedgard und ich sprachen darüber, wie sehr sich die Leute die Mäuler zerreißen. Es geht um, Ihr hättet mir noch eine Woche gegeben.«
Barbara legte die alten Leinenstreifen zur Seite und fuhr sich mit dem Handrücken unter der Nase lang. Anfangs hatte es ihr Spaß gemacht, das Gerede um ihre außergewöhnlichen, seeblauen Augen. Da war sie noch jung gewesen und stolz darauf, dass man ihr zutraute, die Gabe des besonderen Blicks zu haben. Tatsächlich war es nicht schwer, jemandem in die Augen zu schauen und zu sehen, ob der Lebensmut darin erloschen, gebrochen oder zerfressen war. Oder die Angst darin zu sehen. Oder die Sehnsucht nach Leben. Oder Gleichmut, Stärke. Doch mit jeder Krankheit, die sie bestimmte, mit jedem weiteren Jahr, das diesen Ruf förderte, wurde ihr unbehaglicher zumute. Und seit fünf Jahren hasste sie es geradezu, jemandem direkt in die Augen zu schauen und zu lesen, was darin geschrieben stand.
»So, das geht um«, sagte sie beherrscht und entfernte den letzten Stoffrest, der mit der Salbe am Nacken festklebte, mit einem entschiedenen Ruck.
Baumann sog scharf die Luft ein.
»Ist schon gut, Magister Baumann. Ich weiß, dass Ihr es nicht so meintet«, lenkte sie ein.
Friedgard beugte sich herüber und betrachtete die Wunde. »Sieht wirklich gut aus, Hartmann«, lobte er. »Bald klettern wir im Baugerüst deiner Schule!«
Er wollte seinem Freund Mut machen.
Und ihn bei ihr wieder in gutes Licht rücken.
Das war es, was sie bei sich »das Sonnige an ihm« nannte. Diese Unbekümmertheit,