Matthias erinnerte sich noch gut daran, wie er Christoph später von dem Unfall erzählte und auch jetzt erinnerte er sich an jedes Detail, als sei es erst gestern gewesen. Er musste nur die Augen schließen und plötzlich befand er sich wieder auf der Straße, mitten im Feierabendverkehr, umgeben von hupenden Autos, die sich ihren Weg an ihnen vorbei bahnten.
»Ist das überhaupt Ihr Auto?«, fragte sie misstrauisch und Matthias zog die Augenbrauen hoch.
»Wieso, glauben Sie, ich könnte mir den Wagen nicht leisten? Aber nein es ist nicht meiner!«, antwortete Matthias spöttisch und lächelte sie dabei an. Obwohl Hanna noch immer wegen des Unfalls sichtlich aufgebracht war, konnte auch sie ein Grinsen nicht unterdrücken. Es war sofort spürbar, dass es eine Anziehung zwischen ihnen gab, auch wenn Hanna es ihm zunächst nicht leicht machte und sie von Polizei, Versicherung und Gutachten faselte. Matthias hat ihr trotzdem angeboten, den Schaden sofort in der Werkstatt zu beseitigen. Es kostete ihn einiges an Überzeugungskraft, sie dazu zu bewegen, mit ihrem Wagen in die Werkstatt zu kommen. Den Oldtimer konnte er grade so mit Ach und Krach zurück zur Werkstatt fahren, da der Kühler einen Riss hatte. Christoph machte ihm natürlich ebenfalls eine Szene. Er hatte keine Ahnung, wie er das dem Oldtimer-Besitzer erklären sollte. Matthias hatte gerade noch Zeit, Christoph zu beruhigen und den Kunden anzurufen, um ihm irgendeine Geschichte aufzutischen, weshalb der Wagen nun leider noch einige Tage länger in der Werkstatt verbleiben musste, bevor Hanna aufkreuzte. Christophs Zorn war wie verflogen, als er sie in ihrem kleinen Schwarzen aus dem Auto steigen sah, doch Hanna hatte aus irgendeinem Grund nur Augen für ihn, für Matthias. Um sie zu informieren, wann ihr Wagen wieder einsatzbereit war, notierte Matthias ihre Nummer. Nachdem sie mit einem Taxi zu ihrem nächsten, wichtigen Termin abgefahren war, dachte Matthias lange darüber nach, ob es richtig wäre, sie anzurufen und ihr ein Abendessen als Wiedergutmachung anzubieten. Schließlich entschied er sich dafür und rief sie einen Tag später an.
Eigentlich war er sich sicher, dass sie ablehnen würde, doch zu seiner Verwunderung stimmte Hanna der Verabredung zu. Zwei Tage später trafen sie sich bei einem entzückenden, kleinen Italiener, der nicht weit von der Werkstatt entfernt war. Sie tranken Wein, aßen Pasta und landeten noch in der gleichen Nacht im Bett. Ab dem Zeitpunkt ging alles ganz schnell, vielleicht, weil Hanna von da an die Dinge in ihre Hand nahm: der erste Urlaub, nach sechs Monaten die gemeinsame Wohnung, die sie alleine einrichtete, das erste gemeinsame Weihnachten und alles, was ein gemeinsames Leben ausmachte. Alles lief wie nach einem Drehbuch ab und Matthias akzeptierte es aus Liebe zu ihr. Sie war wunderschön, erfolgreich, zielstrebig und konnte knallhart sein. Er wusste, dass sich alle Männer nach ihr umdrehten, wenn sie nur über die Straße ging und ihn viele für diese tolle Frau beneideten. Er wusste selbst nicht genau, was Hanna eigentlich an ihm fand, immerhin war er das ziemliche Gegenteil von ihr. Weder trug er gerne einen Anzug oder unverschämt teure Kleidung, noch trieb er sich gerne in schicken Restaurants herum. Er liebte seine Arbeit, keine Frage, doch eine Karriere strebte er eigentlich nicht an. Viel lieber verbrachte er die Abende in seiner Lieblingskneipe oder vor dem Fernseher und sein liebstes Outfit waren noch immer Jeans und Longshirts.
Für Hanna versuchte er, sich anzupassen, auch wenn er sich nicht wohlfühlte. Aber da würde man sich schon noch dran gewöhnen, dachte er. Matthias seufzte. Liebe ließ sich eben nicht erklären, dachte er sich. Daran, dass er Hanna liebte, konnte kein Zweifel bestehen. Heute waren sie zwei Jahre zusammen und er wusste, dass so langsam der nächste Schritt anstand. Welcher das war, darüber konnte kein Zweifel bestehen: Er musste ihr einen Antrag machen. Insgeheim fragte er sich, weshalb er das nicht schon längst getan hatte. Es war nicht so, dass er sie nicht heiraten wollte. Doch, das wollte er unbedingt, aber er fürchtete, Hanna zu enttäuschen. Eine Perfektionistin wie Hanna erwartete mindestens einen Heiratsantrag wie aus einem Kitschroman - mit Kerzen, Tauben und tausend anderen Dingen. Damit war Matthias schlichtweg überfordert und es gab auch niemanden, der ihm in dieser Sache einen guten Ratschlag geben konnte. Seine Oma Lotte war ihm keine Hilfe. Lotte war der einzige Mensch, der von Hanna nicht so begeistert war, wie alle anderen. Sie nannte sie »das Püppchen« und das war keineswegs positiv gemeint. Zwar riss sie sich ihm zu liebe zusammen, wenn er, was selten genug vorkam, mit Hanna gemeinsam bei ihr auftauchte. Wenn er mit ihr allein war, wurde sie nicht müde, ihm zu erklären, dass Hanna nicht die Richtige für ihn war.
»Diese Frau hat einfach kein Herz. Manchmal frage ich mich, ob sie vielleicht ein Roboter ist. Ich habe gelesen, dass sie jetzt Roboter erfinden, die wie Menschen aussehen. Sie kann noch nicht einmal kochen«, sagte sie dann etwa, was Matthias schmunzelnd ignorierte.
»Hanna hat viele andere Qualitäten«, war seine Antwort darauf. »Sie hat Geschmack und weiß, was sie will, und das ist auch viel wert.« Bei diesen Gelegenheiten sah ihn Oma Lotte mit diesem durchdringenden Blick an, als fragte sie ihn, ob er denn wisse, was er wollte. Das wusste Matthias: Er wollte Hanna und dass sie mit ihm, aber auch mit ihrem gemeinsamen Leben zufrieden sei, denn dann würde er es auch sein. Das Problem war nur, dass Hanna ziemlich schwer zufrieden zu stellen war, was ihn zum heutigen Abend brachte. Ob sie sich über seine Überraschung freuen würde? Was, wenn ihr sein Geschenk gar nicht gefiel und sie mit etwas ganz anderem rechnete? Bei dem Gedanken daran bekam Matthias schweißnasse Hände und eine Art Übelkeit überkam ihn. Er umklammerte das Lenkrad ein wenig fester und beschloss, nicht länger darüber nachzudenken. Hanna liebte ihn und sie würde sich über seine Geste freuen, daran musste er einfach glauben.
»So eine verfluchte Scheiße!« Entgeistert blickte Hanna an ihrer Strumpfhose herunter, an der sich eine ziemlich große Laufmasche vom Knie bis zum Knöchel zog. Sie war an dem Tisch hängen geblieben, auf dem sie das neueste Produkt neben der regulären Produktpalette von »YourBestSelf« präsentierte, eine Tagescreme, die jede Frau binnen sechs Wochen garantiert um Jahre jünger aussehen ließ. Neben dem Tisch standen rechts und links zwei Werbebanner, die mit großen Lettern die zahlreichen Vorteile der »StayYoung«-Tagescreme verkündeten. Vor knapp einer Stunde war die Präsentation in dem kleinen Einkaufszentrum am Stadtrand zu Ende gegangen. Ein C-Sternchen der lokalen Prominenz, die durch zahlreiche Schönheits-OPs zu einer erstarrten Mimik verdammt war, hatte die Creme vorgeführt. Dabei schwärmte das Model davon, wie viel »natürliche Schönheit und Jugendlichkeit« ihr dieses Produkt verliehen hatte und dass ihr gutes Aussehen einzig und allein auf die Wunderwirkung dieser Creme zurückzuführen war. Alles schien genau nach Drehbuch zu verlaufen und nach der Präsentation scharrten sich dutzende Frauen mittleren Alters um den Verkaufsstand, um »StayYoung« zum Einführungspreis zu erwerben. Gut, dass sie alle nicht wussten, dass dieser nur wenige Cent unter dem tatsächlichen Preis lag. Jetzt war es ruhiger geworden, am Abend eilten nur noch einige berufstätige Frauen für den letzten Einkauf durch die Shopping Mall und hatten kaum einen Blick für Hanna. Eine Frau näherte sich dem Verkaufsstand. Hanna scannte sie mit geübtem Blick. Ihre Jacke war sicher mehr als zehn Jahre alt, ihre Schuhe bequem, aber sicher nicht modisch. Sie mochte noch nicht sehr alt sein, doch ihr ganzer Look verriet, dass sie den Kampf gegen das Alter viel zu früh aufgegeben hatte und scheinbar auch nicht das nötige Kleingeld besaß, um dauerhaft eine Kundin von »YourBestSelf« zu werden. Vermutlich hatte sie es lediglich auf ein paar kostenlose Proben abgesehen. Hanna gelang es kaum, ihre Verachtung für diese Sorte Frau im Zaum zu halten.
»Hallo«, sagte die Frau und lächelte unsicher. Hanna entblößte ihre makellos weißen Zähne zu einem perfekt einstudierten Lächeln. Performance war, wenn man es auch dann durchzog, wenn es nicht darauf ankam, das hatte sie in einem der endlosen Verkaufsseminare zu Beginn ihrer Arbeit bei »YourBestSelf« gelernt.
»Haben Sie Interesse an einer Creme, die Ihr Leben verändern wird?«, zwitscherte sie mit gekonnter Freundlichkeit. Die Frau nickte und blickte mit großen Augen auf die Tiegel, die Hanna sorgsam zu einer Pyramide aufgeschichtet hatte.
»Lässt einen die Creme denn tatsächlich jünger aussehen?«, fragte die Frau, während sich