„Beabsichtigst du noch immer, das College zu besuchen?“, fragt Mutter. Ich nicke. Es ist Pflicht, wenn nicht sogar eine Selbstverständlichkeit. Harvard, Oxford, eines der anderen englischsprachigen, hochgelobten Institutionen, an denen man mich angemessen zu behandeln weiß und mich niemand bedrängt. So brillant man seine Geschäfte auch abwickeln mag, letzten Endes wird man doch auf seinen Abschluss reduziert. Es wird der Tag kommen, an dem ich ein tadelloses Zeugnis benötige – und werde vorzeigen können. „Ein Juraabschluss wäre praktisch“, antworte ich und ringe um neue Energie, die meine Glieder wieder zum Leben erweckt und mich die noch junge Nacht überstehen lässt. „Ebenso Wirtschaft und Psychologie. Ich dachte, das stände außer Frage.“
Mutter nickt und zieht mir eine der Haarnadeln aus der Frisur. Automatisch halte ich ihre Hand fest. Sie schenkt mir ein leichtes Lächeln. „Darf die eigene Mutter der Tochter nicht mehr dabei helfen, sich bettfertig zu machen?“ „Ich muss noch einmal nach unten gehen.“ Mich verabschieden, für die Fotografen ein letztes Mal posieren, beweisen, dass ich über der Zeit und den Gästen stehe. „Das wird nicht zwingend notwendig sein”, sagt Mutter glatt. „Bilder wurden geschossen, Monsieur Depót ist bereit, sich mit dir und Achim auseinanderzusetzen. Je länger der Abend und je höher der Alkoholpegel, desto gefährlicher wird er.“ Das ist wahr. Die Zunge wird lockerer, der Verstand träger. Ich bin noch nicht Diplomatin genug, um bis tief in die Nacht Geschäfte abwickeln zu können, ohne mich dabei zu verhaspeln oder in eigene Fallen zu tappen. Diese Freuden überlasse ich meinem Vater und meinem Verlobten. Beide beherrschen die nächtlichen Verhandlungen weit besser als ich.
„Wird Achim bald zu mir kommen?“, frage ich Mutter. Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als mich endlich an seine Brust zu lehnen und das teure Aftershave einzuatmen. Seinen steten Puls an meiner Wange pochen zu fühlen. Seine Liebe ist ein viel zu seltener Luxus und raubt mir die klaren Gedanken. „Er dürfte bereits in deinem Zimmer auf dich warten.“ Kurz zaudert Mutter, etwas, das man von ihr nicht kennt. Sie wird dafür gefürchtet, dass sie jede noch so komplexe Frage binnen von Augenblicken beantwortet, jederzeit angemessen und korrekt. Zögern kennt sie nicht. Und hat es doch soeben getan. Die Nacht ist lang und anstrengend. Dieses Zucken beweist es.
„Sag mir, Tochter”, setzt Mutter an und reicht mir ein Glas mit kristallklarem Wasser. Ich stürze es hinunter und genieße den Nachgeschmack von Rosen. Mutter ist dazu übergegangen, mir dieses Getränk regelmäßig reichen zu lassen. Für meinen tadellosen Teint. „Hattest du in letzter Zeit seltsame Träume? Oder wurden dir unerwünschte Gegenstände zugestellt?“ Mein Herz stolpert. Mühsam kontrolliert stelle ich das leere Glas auf dem polierten Tisch ab. Die Briefe. Ich rümpfe leicht die Nase und stehe auf, greife nach meinen Schuhen und schenke Mutter ein professionelles Lächeln, penibel darauf bedacht, dass sie nicht in meinen Ausschnitt sieht und die kleine, weiße Ecke des Umschlags entdeckt. „Nein.“ Ein einziges Wort. Ich scheitere an vier Buchstaben. Mutter wirkt nicht erleichtert. Vielmehr misstrauisch. „Bist du dir sicher?“ Ich streiche mir eine Locke, die mir offen über die Schulter fällt, auf den Rücken und lache leise auf. „Es ist spät, Mama, wir sollten solch ungewöhnliche Gespräche nicht mitten in der Nacht führen.“
Ich trete vor den Kamin, gebe vor ein letztes Mal die Hitze zu genießen und die Glut zurecht zu schieben, während ich den Umschlag aus meinem Dekolleté ziehe und in die Flammen fallen lasse. Sie erheben sich, umfangen ihn, schenken ihm eine tödliche Umarmung, wie jedem Brief vor ihm auch, ehe sie nichts übriglassen als wenige Ascheflocken. Dass Mutter hinter mich getreten ist, bemerke ich erst, als sie eine Hand auf meine Schulter legt. „Du hast Recht, mein Kind.” Bestimmend reibt ihr Daumen über meinen Nacken. „Ich sehe dich in der Früh beim Brunch. Die ungarischen Oligarchen werden anwesend sein, der König Spaniens und die neureiche Familie. Riva hieß sie meines Wissens nach.“ Der Junge mit der Zahnfüllung, dessen Eltern jämmerliche 200.000 Dollar im Monat verdienen. Ich komme nicht umhin, abfällig die Lippen zu verziehen. Gioseppe Riva hat meine Anwesenheit nicht verdient. Vermutlich weiß diese Familie nicht, wie man die dargebotenen Delikatessen richtig betitelt und verspeist. Sie sind das Menü nicht Wert. „Achim und ich werden pünktlich sein“, verspreche ich ihr. Mutter drückt mir einen Kuss ins Haar. „Deine Entwicklung erfüllt mich mit Stolz, Chrona. Du bist mehr die Tochter, die ich mir wünschte, als ich jemals gehofft habe.“ Ihr Kompliment lässt mich lächeln. Aufrichtig. Stolz fließt durch meine Adern und vertreibt einen großen Teil der alkoholisierten Müdigkeit. „Ich danke dir.“ Rasch drücke ich Mutter einen Kuss auf die linke Wange, dann auf die Rechte, ehe ich zurück in den Fahrstuhl steige. Mutter bleibt vor dem Kamin zurück, stochert in der Glut und beobachtet die züngelnden Flammen. Eine bildhübsche Frau. Von ihr habe ich die anbetungswürdige Haltung und das unvergessliche Gesicht geerbt. Von Vater die dichten, welligen Haare und langen Wimpern. Sie erhebt sich, als die Türen zugleiten und der Aufzug mich nach oben in mein Apartment trägt.
Kaum betrete ich das Zimmer, verzieht sich mein Mund zu einem breiten Lächeln. Achim sitzt auf meinem Bett, die Krawatte gelöst und das Jackett an die geöffnete Badezimmertür gehängt. Er wirkt erschöpft, die Schultern leicht nach unten gesunken, mit tiefen Schatten unter den hellblauen Augen. Sobald sich der Fahrstuhl summend verabschiedet, um den nächsten Gast in die gewünschte Räumlichkeit zu bringen, blickt Achim auf und schenkt mir das gleiche Lächeln, das er heute schon viel zu vielen Menschen gewidmet hat. Ich lasse mich neben Achim sinken und schlinge die Arme um seinen Hals. Er duftet nach seinem Aftershave, nach Champagner und den Speisen, die man auf dem Buffet finden konnte. Das weiche Kribbeln schleicht sich in meinen Magen. Allein. Endlich. „Wo warst du so lange?“ Seine Lippen streifen mein Ohr. Kichernd zucke ich die Achseln und lasse die Nase bis zu seinem Kehlkopf wandern. „Mutter wollte noch das ein oder andere Detail mit mir besprechen. Sie ist ausgenommen erleichtert darüber, dass unser Abend erfolgreich war.“ Achim seufzt, macht sich von mir los und steht auf, nickt. „James hat mich darüber in Kenntnis gesetzt, dass wir morgen Früh um Elf zum Brunch erscheinen sollen.“ Ich lege den Kopf in den Nacken und schicke einen stummen Fluch gen Himmel. Vater stielt mir die rare Zweisamkeit mit meinem Verlobten. Wenn alles gut läuft, erhaschen wir sechs Stunden Schlaf. Ich würde jede Einzelne opfern für mehr Zeit mit ihm. Und Achim? Achim ist verantwortungsbewusst, weiß um die Wichtigkeit des perfekten Auftritts und des Schlafes. Er würde unsere Zweisamkeit unter allen Umständen der Pflicht opfern.
Achim schlingt die Arme um mich und sieht mir tief in die Augen. Süße Sekunden vergehen. Dann endlich küsst er mich. Eine glückliche, überwältigte Wärme wallt in meinem Herzen auf, während seine Finger von meinem Hals über die Wangen, bis hinein in mein Haar wandern. Alles an Achim wirkt beherrscht, bis in die letzte Berührung, egal zu welcher Tageszeit.
Zum einen bewundere ich ihn für diese Kontrolle, zum anderen verfluche ich ihn dafür. Was würde ich dafür geben, zumindest ihm gegenüber den Anstand fallenlassen zu dürfen? Während seine Lippen über meinen Kiefer wandern, blitzt eine verrückte Idee in meinem nebligen Verstand auf, die mit Sicherheit dem Champagner geschuldet ist. „Lass uns in die Stadt gehen“, flüstere ich. Achim lässt von mir ab und sieht mich befremdet mit gerunzelter Stirn an. „Es ist mitten in der Nacht. Man würde uns erkennen.“ „Ich ziehe eines der alten Kleider an und binde mir die Haare zu einem Pferdeschwanz. Komm schon.“ Ich zupfe wie ein kleines Kind an seinem Hemdsärmel. „Es wäre so schön. Wann hatten wir das letzte Mal richtig Zeit für uns? Gemeinsam”, ich lehne mich an ihn, „allein in einer ganz gewöhnlichen Bar oder auf einer Parkbank.“ Die Antwort kommt mir schneller in den Sinn, als Achim reagieren kann. Noch nie. Nicht ein einziges Mal. Diese Erkenntnis erschreckt mich. Sie wirkt unmöglich. Aber so oft ich jeden einzelnen Moment mit Achim abspule, jede unserer gezählten Stunden drehe und wende, bleibt am Ende nicht als Professionalität und gestohlene Küsse übrig. Eine bitterschmeckende Erkenntnis, die sich selbst durch unsere Verlobungsfeier zog. „Du hast zu viel getrunken“, murmelt Achim und zieht mir, ebenso wie Mutter noch zuvor, die Haarnadeln aus der Frisur, eine nach der anderen. Er legt sie sorgfältig auf den hellen Nachttisch neben meinem Bett, reiht sie nach Länge sortiert auf. Die glänzenden, goldenen Spitzen erinnern an Dolche, besetzt mit den schönsten Saphiren und Smaragden, die man finden konnte. Mutter behauptet felsenfest, dass sie meine Augen zur Geltung bringen. Meiner Meinung nach lässt dieser Schmuck nicht nur sie erstrahlen. Auch meinen blassen Teint, die von Natur aus dunkelrote