Der Herr mit der weißen Weste stand, die Hände auf dem Rücken, am Tore. Er hatte dem kleinen Streit zwischen Gamfield und seinem Esel gespannt zugeschaut und lächelte gutgelaunt. Gamfield lächelte gleichfalls, als er das Schriftstück durchgelesen hatte, denn fünf Pfund waren gerade die Summe, die er brauchte. Was die Beigabe des Jungen anbelangt, so wußte der Meister, der die Armenhauskost kannte, daß es sich nur um ein ziemlich schmächtiges Menschenexemplar handeln könnte. Er buchstabierte also den Anschlag nochmals von Anfang bis zu Ende durch und redete dann den Herrn mit der weißen Weste an, indem er gleichzeitig grüßend die Hand an seine Pelzmütze legte:
„Diesen Jungen hier will also die Gemeinde als Lehrling vergeben?“
„Ja, lieber Freund“, erwiderte der Herr mit der weißen Weste leutselig, „warum?“
„Wenn die Gemeinde ihn ein leichtes, angenehmes Handwerk lernen lassen will, so möchte ich mein Schornsteinfegergeschäft empfehlen“, entgegnete der Meister. „Ich brauche einen Lehrling und bin bereit, ihn zu nehmen!“
„Kommen Sie rein“, sagte der Herr mit der weißen Weste.
Gamfield folgte diesem in das Sitzungszimmer und trug Herrn Limbkins seinen Wunsch vor.
„Es ist ein schmutziges Handwerk, man hat auch erlebt, daß Jungens in den Schornsteinen erstickt sind“, meinte Limbkins.
„Dies kommt daher“, versetzte Gamfield, „daß man das Stroh anfeuchtete, ehe man es im Kamin anzündete, um die Jungen herunterzuholen. Es gab nur Rauch aber kein Feuer. Rauch hat aber keinen Zweck, denn er veranlaßt einen Jungen nicht runterzukommen, er macht ihn nur schläfrig, und das ist es ja gerade, was solch ein Bursche will. Jungen sind faul und widerspenstig, meine Herren, und ein schönes, heißes Feuer das Beste, um sie im Galopp herunterzubringen. Es ist auch ein humanes Mittel, meine Herren, denn wenn einer im Schornstein steckenbleibt und sich die Füße verbrennt, dann tut er schon selbst alles mögliche, um sich aus dieser Lage zu befreien.
Die Vorstandsmitglieder berieten sich einige Minuten, dann verkündete Herr Limbkins:
„Wir haben Ihren Vorschlag überlegt, können aber nicht drauf eingehen.“
„Ganz und gar nicht“, sagte der Herr mit der weißen Weste.
„Entschieden nicht“, fügten die andern Vorstandsmitglieder hinzu.
„So soll ich ihn also nicht haben, meine Herren?“ fragte Gamfield.
„Nein“, antwortete Herr Limbkins, „oder Sie müßten mit einer kleineren Summe zufrieden sein, da es doch ein zu schmutziges Handwerk ist.“
„Was wollen Sie geben, meine Herren? Seien Sie nicht zu hart gegen einen armen Mann!“
„Nun, ich meine, drei Pfund und zehn Schillinge wären genug“, sagte Herr Limbkins.
„Schon zehn Schilling zuviel“, bemerkte der Herr mit der weißen Weste.
„Also, sagen wir vier Pfund, meine Herren“, versetzte Gamfield, „und Sie sind den Jungen für immer los. Vier Pfund, das ist anständig.“
„Drei Pfund und zehn Schillinge“, wiederholte Herr Limbkins unbeugsam.
„Wir wollen die Differenz teilen, meine Herren, drei Pfund und fünfzehn Schillinge also!“
„Nicht einen Penny mehr“, lautete die feste Antwort Herrn Limbkins.
„Sie sind mächtig hart zu mir“, sagte Gamfield kleinlaut.
„Unsinn“, sagte der Herr mit der weißen Weste. „Es wäre ein feines Geschäft auch ohne jeden Zuschuß. Greifen Sie zu, Mann. Er ist gerade der richtige Junge für Sie. Ab und zu hat er den Rohrstock nötig, und sein Essen braucht auch nicht üppig zu sein, denn er ist von seiner Geburt an nie überfüttert worden. Ha! Ha! Ha!“
Der Handel wurde also geschlossen, und Bumble bekam den Auftrag, Oliver Twist noch am selben Nachmittag vor den Friedensrichter zu führen, um seinen Lehrbrief genehmigen und unterzeichnen zu lassen.
Der kleine Oliver wurde daher zu seinem großen Erstaunen aus der Haft entlassen und erhielt den Befehl, ein reines Hemd anzuziehen. Er hatte kaum diese ungewohnte gymnastische Übung beendet, als ihm Herr Bumble eigenhändig einen Napf voll Haferschleim und das sonntägliche Stück Brot brachte. Bei diesem Anblick fing Oliver kläglich an zu weinen, denn er dachte nichts anderes, als daß die Behörde ihn zu irgendeinem nützlichen Zwecke schlachten lassen wollte, da sie ihn wohl sonst kaum in dieser Weise mästen würde.
„Weine dir nicht die Augen rot, Oliver, sondern iß und sei dankbar“, sagte Herr Bumble würdevoll. „Du sollst Lehrling werden, Oliver!“
„Lehrling, Herr?!“ rief der Junge zitternd.
„Jawohl, Oliver, die guten Herren, die an dir Elternstelle vertreten haben, wollen dich in die Lehre geben, damit du später im Leben vorwärts kommst und ein tüchtiger Kerl wirst. Das kostet der Gemeinde drei Pfund und zehn Schillinge, denke mal, Oliver, drei Pfund zehn Schillinge – siebzig Schillinge! – hundertvierzig Sixpences – und all das für einen ungezogenen Waisenjungen, den keiner leiden kann“’
Als Herr Bumble innehielt, um Atem zu schöpfen, rannen dem armen Oliver nur so die Tränen über die Backen, und er schluchzte bitterlich.
„Weine nicht!“ sagte Herr Bumble, der von der Wirkung seiner Beredsamkeit sehr befriedigt war. „Wisch dir die Tränen mit dem Ärmel ab und laß sie nicht in die Suppe fallen. Das ist töricht.“ Das stimmte, denn in der Suppe war ohnehin schon Wasser genug.
Auf dem Wege zum Friedensrichter belehrte Herr Bumble seinen kleinen Begleiter, daß er dort weiter nichts zu tun habe, als recht glücklich auszusehen. Wenn ihn dann der Herr frage, ob er in die Lehre gehen wolle, so müsse er sagen, furchtbar gern. Oliver versprach zu gehhorchen, um so mehr als Herr Bumble die zarte Andeutung fallen ließ, er könne nicht sagen, was man ihm antun würde, wenn er nicht diesen seinen Unterweisungen getreulich nachkäme. Als sie an Ort und Stelle eintrafen, wurde Oliver in ein kleines Zimmer gebracht und von Herrn Bumble ermahnt, dort so lange zu verweilen, bis er ihn holen würde.
Klopfenden Herzens wartete der Junge bereits eine halbe Stunde, als endlich Herr Bumble seinen Kopf, der jetzt der Zierde des dreieckigen Hutes entbehrte, durch die Tür steckte und laut sagte:
„Nun, liebes Kind, komm zu dem Herrn.“ Dabei warf er Oliver einen drohenden Blick zu und flüsterte ihm zu: „Denke dran, was ich dir sagte, Bengel.“
Oliver sah bei diesem sich widersprechenden Ton der Anreden unschuldig zu Herrn Bumble auf. Dieser führte ihn sogleich in ein anstoßendes Zimmer, dessen Tür offen stand. Hinter einem Pult saßen dort zwei alte Herren mit gepuderten Perücken. Einer las eine Zeitung, der andere studierte mit Hilfe einer Schildpattbrille ein kleines vor ihm liegendes Pergament. Herr Limbkins stand vorn an einer Seite des Pultes und Meister Gamfield mit teilweise gewaschenem Gesicht auf der anderen.
Der alte Herr mit der Brille war über seinem Pergament eingenickt, und es entstand eine kurze Pause, nachdem Herr Bumble Oliver vor das Pult geführt hatte.
„Das ist der Junge, Euer Gnaden“, sagte Herr Bumble.
Der die Zeitung lesende Herr sah auf und zupfte den andern alten Herrn am Ärmel, worauf dieser erwachte.
„Ach, das ist also der Junge?“ fragte er.
„Ja, Euer Gnaden“, versetzte Herr Bumble. „Mach dem Herrn Richter eine Verbeugung, Oliver.“
Oliver machte seinen schönsten Diener.
„Der Junge will also gern Kaminfeger werden?“ sagte der Friedensrichter.
„Er ist ganz verrückt danach, Euer Gnaden“, sagte Bumble, „er würde davonlaufen, wenn wir ihn zwingen wollten, etwas anderes zu lernen!“
„Und dieser Mann da soll sein Meister sein, nicht wahr? Sie werden ihn doch gut behandeln, und was das Essen und die Kleidung anbelangt, nicht Not