Sobald die Beichte zu Ende war, wurde Oliver wieder zur Ruhe gebracht, und der Doktor begab sich hinunter, um Herrn Giles aufs Korn zu nehmen. Er wischte sich die Augen und verfluchte dieselben wegen ihrer Schwäche.
In der Küche waren alle Dienstboten versammelt, Herr Giles, Herr Brittles, das weibliche Personal, der Kesselflicker, der in Anbetracht seiner geleisteten Dienste eine besondere Einladung erhalten hatte und der schafsköpfige Polizist. Dieser hatte einen Polizeiknüppel, einen Wasserkopf, einen großen Mund und große Stiefel an. Er sah aus, als ob er eine diesen großartigen Eigenschaften entsprechende Menge Bier sich einverleibt hätte, was auch tatsächlich der Fall war.
Man sprach immer noch über die Ereignisse der vergangenen Nacht, und Herr Giles war eben dabei, seinen Mut und seine Geistesgegenwart in das richtige Licht zu setzen, wobei ihm Brittles, den Bierkrug in der Hand, kräftig sekundierte, als der Doktor eintrat.
„Sitzengeblieben!“ rief derselbe mit einer Handbewegung.
„Danke“, sagte Herr Giles. „Die gnädige Frau ordnete an, daß Bier verteilt werden sollte, und da ich Verlangen nach Gesellschaft hatte, bin ich aus meinem Zimmer hierher gekommen, um meinen Schoppen zu trinken.“
Brittles und die übrigen Damen und Herren murmelten etwas von „großer Ehre“ und „Leutseligkeit des Herrn Giles“, worauf sich dieser mit einer Gönnermiene umsah, als wenn er sagen wollte, daß er ihre Gesellschaft nicht verlassen würde, solange sie sich anständig benähmen.
„Wie geht es dem Kranken, Herr Doktor?“ fragte Giles.
„So, so, la la, ich fürchte, Sie haben sich dabei in eine arge Patsche gebracht, Herr Giles.“
„Ich hoffe, Sie wollen damit nicht andeuten, daß er sterben muß“, sagte Giles erschrocken. „Ich würde meines Lebens nicht mehr wieder froh. Ich könnte keinen Jungen töten – nicht einmal den Brittles da, und wenn man mir das Silbergeschirr des ganzen Landes dafür böte.“
„Davon ist nicht die Rede“, erwiderte der Doktor. „Herr Giles, sind Sie ein guter Christ?“
„Ja, Herr Doktor, das hoffe ich“, stotterte dieser und wurde weiß wie die Wand.
„Und wie steht’s mit dir, Junge?“ fuhr der Doktor zu Brittles gewandt fort.
„Mein Gott“, sagte Brittles zusammenzuckend, „ich bin dasselbe wie Herr Giles.“
„Dann sagt mir, ihr beide, wollt ihr es auf euern Eid nehmen, daß der Junge derselbe ist, welcher in der vergangenen Nacht durch das kleine Fenster kam? Heraus mit der Sprache! Redet!“
Der Doktor, als gutmütig überall bekannt, stellte diese Frage in so drohendem Tone, daß Giles und Brittles sich vor Schreck und Erstaunen starr ansahen.
„Passen Sie auf ihre Antwort gut auf, Polizist, ich bitte darum“, sagte der Doktor und hob in feierlicher Weise seinen Zeigefinger hoch. „Es kann später darauf ankommen.“
Der Polizist machte ein würdevolles Gesicht und nahm das Zeichen seines Amtes, den Knüppel, aus der Kaminecke, wo er unbeachtet gelegen hatte, in die Hand.
„Die Frage behandelt die Identität der Person, das haben Sie wohl schon gemerkt?“ sagte der Doktor.
„Allerdings, darüber war ich mir klar“, erwiderte der Polizist mit heftigem Husten, denn er hatte sein Bier so hastig ausgetrunken, daß ihm davon etwas in die Luftröhre gekommen war.
„Es wird in ein Haus eingebrochen“, sprach der Doktor, „und ein paar Menschen sehen für einen Augenblick, mitten im Pulverdampf und im Dunkel der Nacht, die Gestalt eines Knaben. Am nächsten Morgen kommt ein Junge in dasselbe Haus, und weil er zufällig den Arm verbunden hat, legen diese Menschen gewaltsam Hand an ihn. Sie bringen sein Leben durch ihr rohes Zugreifen in Gefahr – und schwören darauf, daß er der Dieb sei. Nun fragt es sich, ob diese Menschen ihr Verhalten rechtfertigen können und, wenn dies nicht der Fall ist, in welche Lage sie sich gebracht haben.“
Der Polizist nickte tiefsinnig mit dem Kopf und meinte, wenn der Herr Doktor sich nicht auf das Recht verstehe, so möchte er wissen, wer es sonst täte.
„Ich frage euch also noch einmal“, brüllte der Doktor, „wollt ihr mit einem feierlichen Eide beschwören, daß dieser Junge mit dem Diebe identisch ist?“
Brittles sah verlegen Herrn Giles an, und dieser blickte zweifelnd auf Brittles. Der Polizist legte die Hand ans Ohr, damit ihm kein Wort der Erwiderung entgehe. Der Doktor sah sich stolz im Kreise um, als man einen Wagen vorfahren und gleich darauf die Haustürklingel ertönen hörte.
„Das sind die Kriminalbeamten“, rief Brittles, anscheinend mächtig erleichtert.
„Wer?“ fragte der Doktor, an den jetzt die Reihe des Erschreckens kam.
„Die Beamten aus Scotland-Yard“, erwiderte Brittles, eine Kerze anzündend, „ich und Herr Giles haben heute früh nach ihnen geschickt.“
„Was?“ brüllte der Doktor.
„Ja“, antwortete Brittles, „ich habe durch den Postkutscher Botschaft gesandt und wundere mich nur, daß sie nicht schon früher gekommen sind.“
„Das tatest du? Dann hole der Teufel – die Dummköpfe in diesem Haus. Das wollte ich nur sagen“, schimpfte der Doktor und stiefelte hinaus.
Einunddreißigstes Kapitel
Behandelt einen kritischen Fall
„Wer da?“ fragte Brittles und öffnete die Tür ein wenig, ohne jedoch die Sicherheitskette abzumachen. Die Kerze verdeckte er mit seiner Hand.
„Aufgemacht!“ tönte es von draußen. „Es ist die Kriminalpolizei von Scotland-Yard, nach der heute geschickt wurde.“
Durch diese Antwort beruhigt, öffnete Brittles die Tür weit und sah sich einem stattlichen Manne im Mantel gegenüber, der sofort nähertrat und seine Stiefel ruhig an der Matte reinigte, als ob er hier zuhause sei.
„Schicken Sie doch jemand hinaus, junger Mann, der meinem Kollegen hilft, Pferd und Wagen unterzustellen. Sie haben doch eine Remise hier?“
Brittles bejahte und zeigte nach dem Gebäude, worauf der Beamte selbst zu seinem Kollegen ging, um ihm behilflich zu sein, wobei Brittles ihm achtungsvoll mit der Kerze leuchtete. Nachdem dies erledigt war, führte man die beiden Kriminalpolizisten in ein Zimmer, wo sie die Mäntel ablegten. Der Mann, der an die Tür geklopft hatte, war von Mittelgröße und kräftig gebaut. Er konnte wohl fünfzig Jahre alt sein, trug einen Backenbart und hatte scharfe, durchdringende Augen. Der andere war ein rotköpfiger, hagerer Mann in Stulpenstiefeln mit einem häßlichen Gesicht, in dem eine aufgestülpte Nase saß.
„Sagen Sie Ihrer Herrschaft, daß Blathers und Duff gekommen wären“, begann der ältere, indem er sich ins Haar faßte und dann ein paar Handschellen auf den Tisch legte. „Ah! guten Abend, mein Herr, kann ich einige Worte mit Ihnen allein sprechen?“
Diese Anrede galt Herrn Losberne, der gerade mit den beiden Damen ins Zimmer trat. Dieser winkte Brittles, sich zu entfernen und schloß dann die Tür.
„Dies ist die Dame des Hauses“, sagte der Doktor mit einer Handbewegung gegen Frau Maylie.
Herr Blathers verbeugte sich, stellte, als man ihn zum Platznehmen aufforderte, seinen Hut auf den Fußboden, nahm einen Stuhl und winkte Duff, das gleiche zu tun. Dieser, anscheinend nicht gewöhnt, sich in guter Gesellschaft zu bewegen, ließ sich erst nach ziemlich vielen Kratzfüßen nieder und steckte dann den Knopf seines Stockes aus Verlegenheit in den Mund. „Um gleich auf den Einbruchsversuch zu kommen, wie war der Hergang?“ fragte Blathers.
Herr Losberne wollte Zeit gewinnen und erzählte weitschweifig