„Warum kamen Sie nicht schon früher?“ fragte Fang nach einer Pause.
„Ich bin allein in meiner Bude und hatte keine Vertretung. Erst vor fünf Minuten konnte ich jemand auftreiben und bin dann Hals über Kopf hierhergeeilt.“
„Also der Ankläger las, nicht wahr?“, fragte Fang nach einer weiteren Pause.
„Ja“, erwiderte der Mann, „im selben Buche, das er jetzt noch in der Hand hat!“
„So – in diesem Buch? Ist es denn bezahlt?“ erkundigte sich Herr Fang.
„Nein, noch nicht“, erwiderte der Buchhändler mit einem kleinen Lächeln.
„Himmel, das habe ich über der Geschichte hier ganz vergessen“, sagte der zerstreute alte Herr ganz unbefangen.
„Ein feiner Mann, aber eine Klage gegen einen armen Jungen vorbringen“, sagte Herr Fang und bemühte sich krampfhaft, eine menschenfreundliche Miene anzunehmen.
„Nach meiner Ansicht haben Sie sich unter sehr verdächtigen Umständen in den Besitz dieses Buches gesetzt und dürfen sich beglückwünschen, wenn der Eigentümer keine Anklage gegen Sie erhebt. Lassen Sie sich das zur Warnung dienen, sonst möchte das Gesetz einmal gegen Sie in Anwendung kommen. Der Junge ist freizulassen. Räumen Sie den Saal.“
„Donnerwetter“, schrie der alte Herr. Der so lange aufgespeicherte Zorn kam nunmehr zum Ausbruch. „Donnerwetter, ich will – “
„Gerichtsdiener! Räumen Sie den Saal! Hören Sie?“ brüllte der Richter.
Man führte den entrüsteten alten Herrn, der ein Bild der Wut und des Trotzes darbot, schnell auf den Hof heraus. Dort fand er den kleinen Oliver auf dem Steinpflaster liegend, sein Gesicht war leichenblaß, und ein krampfartiges Zittern ging durch seinen Körper. „Armes Kind!“ sagte Herr Brownlow, als er sich über ihn beugte. „Will niemand so gut sein und mir einen Wagen holen?“ Man holte einen und bettete Oliver auf einen Sitz, während Herr Brownlow auf dem anderen Platz nahm.
„Darf ich Sie begleiten?“ fragte der Buchhändler.
„Himmel, ich hatte Sie ganz vergessen. Steigen Sie ein, lieber Freund. Und das unglückliche Buch habe ich auch noch. Der arme Junge! Geschwind, es ist keine Zeit zu verlieren.“
Nachdem der Buchhändler in den Wagen geklettert war, zogen die Pferde an.
Zwölftes Kapitel
In dem für Oliver besser gesorgt wird als je. Die Erzählung geht zu dem lustigen alten Herrn und seinen hoffnungsvollen Schülern zurück
Nach ziemlich langer Fahrt hielt die Kutsche vor einem hübschen Hause in einer ruhigen Straße, unweit Pentonville. Herr Brownlow ließ für seinen Schützling rasch ein Bett herrichten und sorgte für ihn mit einer Aufmerksamkeit, die keine Grenzen kannte.
Oliver blieb jedoch viele Tage für die Wohltaten seiner neuen Freunde unempfindlich. Ein starkes Fieber zehrte an seiner Kraft. Schwach, abgemagert und blaß erwachte er endlich wie aus einem langen, wüsten Traume. Er richtete sich mit Mühe in seinem Bette auf und blickte sich ängstlich um.
„Wo bin ich? Wer hat mich hergebracht?“ murmelte er leise. Der Vorhang vor seinem Bett wurde schnell zurückgezogen, und eine mütterliche alte Frau näherte sich ihm.
„Still, Liebling“, sagte die alte Dame sanft. „Du mußt dich ganz ruhig verhalten, sonst wirst du wieder kränker. Leg dich nur brav wieder hin.“ Mit diesen Worten drückte sie ihn sanft in die Kissen zurück. Drauf strich sie ihm das Haar aus der Stirn und schaute ihm so gütig und wohlwollend ins Gesicht, daß er sich nicht enthalten konnte, seine abgemagerten Händchen auf ihre zu legen und sie dann um seinen Nacken zu schlingen.
„Lieber Gott“, sagte die Frau mit Tränen in den Augen, „wie dankbar der Kleine ist. Was würde wohl seine Mutter fühlen, wenn sie so wie ich an seinem Krankenbette gesessen hätte und ihn jetzt sehen könnte.“
„Vielleicht sieht sie mich“, flüsterte Oliver und faltete die Hände. „Vielleicht hat sie bei mir gesessen. Mir ist ganz so, als ob sie hier gewesen wäre.“
„Das war das Fieber, Liebling“, sagte die alte Dame sanft.
„Wahrscheinlich“, erwiderte Oliver, „denn der Himmel ist weit weg, und man ist dort zu glücklich, als daß Engel an das Bett eines armen Jungen herunterkommen sollten. Aber wenn meine Mutter wußte, daß ich krank war, so mußte sie doch selbst im Himmel mit mir Mitleid haben. Denn sie war selbst sehr krank, ehe sie starb. Aber vielleicht weiß sie nichts von mir“, fügte Oliver nach kurzem Schweigen hinzu, „denn wenn sie gesehen hätte, wie man mich schlug, so muß sie traurig gewesen sein. Ach, ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr träumte.“
Die alte Dame sagte nichts, aber wischte sich gerührt die Augen. Dann streichelte sie ihm die Backen und ermahnte ihn, ganz ruhig zu liegen, damit es nicht wieder schlimmer werde.
Oliver verhielt sich daher still und fiel bald in einen sanften Schlaf. Aus diesem wurde er erst durch einen Herrn geweckt, der an seinem Bette stand und seinen Puls fühlte.
„Nicht wahr, mein Kind, du fühlst dich bedeutend wohler?“ fragte der Herr.
„Ja, ich danke“, entgegnete Oliver.
„Das wußte ich“, fuhr der Herr fort. Du hast auch Hunger, nicht wahr?“
„Nein, Herr“, antwortete Oliver.
„Hm! Ich wußte ja, du könntest nicht hungrig sein. Er hat keinen Hunger, Frau Bedwin“, sagte der Herr mit weiser Miene.
Die alte Dame neigte ehrfurchtsvoll den Kopf, womit sie andeuten wollte, daß sie den Doktor für einen sehr klugen Mann halte. Der Doktor schien so ziemlich dieselbe Meinung von sich zu haben.
„Du möchtest schlafen, nicht wahr, mein Kind?“ sprach der Doktor. „Nein, Herr.“
„Nicht?“ versetzte der Doktor mit einem zufriedenen Blick. „Du fühlst dich also nicht schläfrig? Auch nicht durstig, wie?“
„Ja, Herr, durstig sehr.“
„Genau, wie ich’s erwartete, Frau Bedwin“, sagte der Doktor. Es liegt in der Natur der Sache, daß er Durst hat, vollkommen. Sie können ihm etwas Tee geben und eine geröstete Brotschnitte, aber ohne Butter. Halten Sie ihn nicht zu warm, Frau Bedwin, aber passen Sie gut auf, daß er sich nicht erkältet.“
Frau Bedwin knickste, und der Doktor verabschiedete sich. Oliver schlief bald darauf wieder ein, und als er erwachte, war es beinahe Mitternacht. Frau Bedwin sagte ihm freundlich gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die eben gekommen war. Diese erzählte Oliver, daß sie die Nacht bei ihm wachen werde, und setzte sich eine große Nachtmütze aufs Haupt. Nachdem sie sich ihren Stuhl dicht an den Kamin gezogen und ein Gebetbuch vor sich auf den Tisch gelegt hatte, fing sie an einzunicken. In zehn Minuten war sie fest eingeschlafen.
Oliver lag noch einige Zeit wach, dann fiel er in jenen tiefen und ruhigen Schlaf, den nur das Genesungsstadium schwerer Krankheiten zu geben vermag.
Als Oliver die Augen öffnete, war es bereits heller, lichter Tag. Er fühlte sich froh und glücklich. Die Krisis war vorüber, er gehörte wieder der Welt an.
Nach drei Tagen konnte er schon, allerdings durch Kissen gestützt, in einem Lehnstuhl sitzen. Frau Bedwin hatte ihn in ihr eigenes Zimmer bringen lassen und fing vor Freude, ihn auf dem Weg zur Genesung zu sehen, laut zu weinen an.
„Kümmere dich nicht darum, Liebling“, sagte die alte Frau, „ich muß mich einmal recht ausweinen. Jetzt ist schon alles wieder vorüber, und mir ist leichter.“
„Sie sind auch zu gut zu mir“, sagte Oliver.
„Laß gut sein, liebes Kind“, versetzte Frau