„Hm?“, sagte Johnson und kniff die Augen zusammen.
„Nun, zuerst haben wir die Frage des Motivs. Die Polizei scheint keine Verbindung zwischen den beiden Opfern gefunden zu haben. Bedeutet das, dass es keine weiteren Morde mehr geben wird? Oder dass er erst ins Rollen kommt?“
Riley beugte sich auf ihrem Sitz vor. „Aber noch wichtiger – warum würde sich jemand die Mühe machen, jemandem auf diese Weise zu töten? Sie sagten selbst, Mord durch Elektroschock ist ziemlich aufwändig und nicht gerade praktisch. Es gibt wesentlich einfachere Wege, jemanden zu töten.“
Sie sah Johnson in die Augen. „Ich will damit sagen: Was ist das Verlangen dieses Täters? Was treibt ihn an? Und warum hat ein Faible für Elektrizität?“
Johnson wirkte eher verwirrt. Schließlich antwortete er: „Nun, offensichtlich haben wir dafür noch nicht genügend Daten.“ Dann steckte er die Hände hinter seinen Kopf, lehnte sich zurück und starrte aus dem Fenster.
Riley gab sich alle Mühe, ihren neuen Partner nicht ungläubig anzustarren.
Daten, fragte sie sich.
Glaubte Johnson wirklich, dass sie die Gedanken eines Mörders mit Hilfe von Daten nachvollziehen konnten?
Riley selbst hatte schon die Köpfe vieler Mörder durchschaut, aber das immer mit ihrem Bauchgefühl getan. War ihr Talent bereits überholt? Hatte Johnson recht, wenn er glaubte, dass Zahlen und Statistiken die Persönlichkeit eines Killers entblößen konnten?
Vielleicht ist er sogar noch schlauer, als es scheint, dachte sie.
Es war ein fast vierstündiger Flug von Quantico zum Flughafen in Provo, Utah. Nachdem sie die Appalachen überquert hatten, langweilte sich Riley in der Eintönigkeit der Landschaft des Mittleren Westens und döste immer wieder ein.
Riley wurde von einem seltsamen, eisigen Déjà-vu-Gefühl ergriffen, als sie die Handschellen hinter dem Rücken des Mörders befestigte.
Das ist schon einmal passiert, dachte sie.
Ich habe genau dasselbe schon einmal getan.
Dann drehte der Mann, den sie festnahm, sein kindliches Gesicht zu ihr und lächelte sie mit purer Boshaftigkeit an.
„Viel Glück", murmelte er.
Mit einem heftigen Schaudern erinnerte sich Riley.
Larry Mullins!
Sie hatte dieses abscheuliche, kindermordende Monster nicht nur erneut verhaftet, nein, er verspottete sie auch noch genauso wie zuvor.
Und wieder griff sie nach ihrer Glock.
Sie erwartete, dass Crivaro sie warnend an der Schulter berühren würde, so wie er es beim letzten Mal getan hatte.
Stattdessen hörte sie ihn sagen: „Mach weiter. Wir haben beim letzten Mal einen Fehler gemacht. Mach weiter und töte ihn. Es ist der einzige Weg, den Mistkerl loszuwerden. Wenn du es nicht tust, werde ich es tun.“
Riley packte den gefesselten Mann an der Schulter und drehte ihn herum, um ihm ins Gesicht zu sehen. Dann zog sie ihre Pistole und feuerte aus nächster Nähe einen einzigen Schuss in die Mitte seiner Brust ab. Sie fühlte eine Welle der Befriedigung, als er zu Boden fiel. Aber als sie auf ihn hinunterblickte, machten sein Körper und sein Gesicht eine widerliche Verwandlung durch.
Die Person, die zu ihren Füßen lag, war nicht länger das pummelige Monster mit dem Babygesicht, sondern ein unschuldig aussehendes, junges Mädchen. Ihre Augen waren weit geöffnet und ihr Mund bewegte sich lautlos, während sie ihre letzten Atemzüge machte. Sie blickte Riley mit einem Ausdruck furchtbarer Traurigkeit an und blieb dann bewegungslos liegen.
Heidi Wright, erkannte Riley mit Entsetzen.
Riley hatte Heidi Wright Anfang des Jahres im Staat New York getötet.
Und jetzt tötete sie sie erneut …
Riley erwachte mit einem Keuchen und fand sich in der Flugzeugkabine wieder.
„Alles in Ordnung?“, fragte Agent Johnson, der ihr immer noch direkt gegenüber saß.
„Ja“, sagte Riley.
Aber nichts war in Ordnung. Sie hatte gerade einen Traum über ihre erste und einzige Anwendung tödlicher Gewalt gehabt. Damals im Januar während einer Schießerei hatte eine junge Frau namens Heidi Wright ihre eigene Pistole gehoben, um Riley aus nur wenigen Metern Entfernung zu erschießen.
Riley hatte keine andere Wahl gehabt, als zuerst zu schießen.
Der Schuss war gerechtfertigt gewesen und niemand hatte das in Frage gestellt. Trotzdem wurde Riley noch Wochen danach von Schuldgefühlen heimgesucht. Was sie anging, war die arme Heidi Wright ein Opfer der Umstände gewesen und hatte es nicht verdient gehabt, wegen ein paar dummer, jugendlicher Entscheidungen zu sterben.
Riley hatte gedacht, das Trauma mit ihrem Therapeuten verarbeitet zu haben. Aber scheinbar knabberte die Erfahrung noch immer an ihr, wenn auch auf tieferem Level. Riley vermutete, dass ihre Wut über Larry Mullins‘ Gerichtsverfahren dieses Trauma wieder an die Oberfläche befördert hatte.
Aber sie konnte sich davon nicht ablenken lassen. Nicht jetzt, wo sie einen neuen Fall und einen neuen Partner hatte. Und letzterer würde ihre Gefühle bezüglich Heidi Wrights Tod oder Mullins‘ Verurteilung bestimmt nicht verstehen.
Reiß dich einfach zusammen, redete Riley sich ein.
Riley war nun hellwach, als das Flugzeug die Rocky Mountains in Richtung Utah überquerte. Obwohl es jetzt außer auf den Berggipfeln nur noch wenig Schnee gab, weckte das Gelände Erinnerungen an ihren letzten Besuch in dem Bundesstaat. Das war letzten Dezember gewesen. Sie hatte gemeinsam mit Crivaro an ihrem ersten Fall als vollwertige Verhaltensanalyse-Agentin gearbeitet.
Würde dieser Fall genauso grässlich werden wie der Fall, den sie damals gelöst hatten – der Fall eines Serienmörders, der sich auf Campingplätze geschlichen hatte? Es schien nicht unwahrscheinlich, angesichts der Methode der Verbrechen. Aber vielleicht wären sie dieses Mal in der Lage, den Mörder aufzuhalten, bevor er noch mehr Opfer forderte.
Und vielleicht würde wenigstens das Wetter besser sein, dachte sie.
Als das Flugzeug auf dem Rollfeld zum Stehen kam, bemerkte Riley, dass es eine kleine Angelegenheit gab, die ihr auf die Nerven ging. Sie war es gewohnt, mit einem Mann zu arbeiten, der sie "Riley" nannte, während sie ihn immer "Agent Crivaro" genannt hatte – zumindest bis heute Morgen. Es hatte sich für beide völlig natürlich angefühlt.
Welche Formalitäten sollte sie bei ihrem neuen Partner erwarten?
Als sie und Johnson ihre Sitze verließen und sich zum Ausgang begaben, sagte sie zu ihm: „Ich möchte nur eine Sache zwischen uns klären, bevor wir anfangen, zusammen zu arbeiten.“
„Was ist das?“, sagte Johnson und zog seinen Mantel an.
„Wie sollen wir uns gegenseitig nennen?“
Johnson zuckte die Achseln und sagte: „Nun, ich mag es, die Dinge professionell zu halten. Ich schätze, ich würde es vorziehen, als Agent Johnson angesprochen zu werden. Wie soll ich Sie nennen?“
Riley begrüßte es, dass er ihr die Entscheidung überlassen wollte. Sie bezweifelte, dass sie zu diesem Kerl als eine Art Mentor aufschauen würde, wie es bei Crivaro der Fall gewesen war. Sie wollte sicher nicht, dass er sie ‚Riley‘ nannte.
„Ich möchte, dass Sie mich Agent Sweeney nennen.“
„Also gut. Dann werde ich das tun.“
Als sie das Rollfeld betraten, wartete ein Mann mit hängenden Schultern und Zigarette im Mund auf sie. Riley fand, dass er wie ein altmodischer, hartgesottener Filmdetektiv aussah. Aber dann öffnete er seinen zerknitterten Trenchcoat und zeigte sein Abzeichen.
„Ich bin Sheriff Collin Dawes“, stellte er sich vor.
„Haben