Die Sonne machte sich auf, hinter die Picos sinken; ein abendliches Kirchenglöcklein gemahnte der menschlichen Vergänglichkeit. Abdul wuchtete leise schimpfend den voluminösen Koffer der Italienischen auf die Ladefläche und sich auf den Beifahrersitz. Die Italiener kletterten nach hinten in den Kastenaufbau des Renault und nahmen auf ihrer Truhe Platz, wobei die hübsche Esmeralda frohgemut in die Hände klatschte und (im Gegensatz zu Abdul) nach Nelken und Rosinen duftete in ihrem roten weißgepunkteten Seidenkleid, die Strohhutbänder geziert mit Blumenstickereien. Auf ihre hohen Hacken war das kleine Herrchen gefolgt; es hatte die 70 sicherlich weit überschritten und überm fassgroßen Brustkorb die Gala altfränkischer Zeiten: schneeweißes, vorne bretthart gestärktes Frackhemd mit Vatermörder und roter Halsbinde, dazu beiger Leinenanzug, braune Lackschuhe samt beiger Stoffgamaschen, der Strohhut mit rotem Samtband, Lederhandschuhe (in Beige natürlich), weiterhin Stöckchen, Moschus-Parfüm - ein Loui, wie er im Buche stand mit Muskeln wie ein Huhn, eins-20 hoch, sie mindestens eins-70; er eine knittrige Spitzbartvisage ins Bild schiebend, sie zartbraun und glänzeglatt mit leuchtenden Kulleraugen und diesem Feuerbrand an Haaren.
Der Lastwagen rollte an, überließ die Plaza samt Möblierung sich selbst und den länger gewordenen Schatten; die ausgespannten Hengste sanken zurück in sich und ihre Körbe. Minuten später war der Renault hinterm Wegesknick verschwunden, sein Motorbrummen leise, leiser, bald ganz vergangen. Das alte Schweigen wagte sich vorsichtig zurück auf die Plaza, freundlich erwartet von den Senores und ihrem Erinnerungsschorf der Jahre.
Paranusz' Renault hat kurz darauf endlich die Passhöhe erklommen, dahinter gelegen eine windige Hochebene an einem kleinen blautiefen Bergsee vorm Zackenkamm der Picos. In der Nähe wars noch vor Dreimonatsfrist heftig zugegangen, da hätte sich kein normaler Mensch hergewagt ohne mindestens eine Bandera Regulares hinter sich. Rund um den Pass sind jedoch nicht nur Material und Kombattanten beider Kriegsparteien vergangen, genauso übel war, dass sich nach den Gefechten Leichenfledderer und anderes Mordsgesindel hier herumdrückten. Doch am heutigen Tag galt diese Ecke der Picos als ausgemistet, die Leichen weggeräumt; Desperados, Cimarrones und Aasgeier verjagt und die Gegend seit Wochen sicher repatriiert:
Keine besonderen Vorkommnisse!
Kaliber 4 - Interludio I : Wortgeplänkel
Die Faseleien über die Insel Atlantis verstummen nicht, und die Narren werden nicht aufhören, sie ebenso zu suchen wie die Insel Kalypso, von der schon Homer gesagt hat, dass nicht einmal die Götter auf ihr verkehren. (1)
Sie ist nicht leicht zu regieren; wer für ihre Befreiung tätig war, hat das Meer gepflügt. (2)
Ich befinde mich in einem Lande von Vollidioten, in dem ich alles allein machen muß. (3)
Ich aber versichere dem Leser, dass ich keine Geschichten nach Hörensagen wiedergebe, sondern nur das, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. (4)
Ich dachte: Nirgendwo ist auch ein Ort. (5)
(1) Ulrich von Wilamovitz-Moellendorf, Philologe (1848-1931)
(2) Simon Bolivar, südamerikanischer Nationalheld
„El Libertador“ (1783-1830)
(3) Dr. Garcia Rodriguez de Francia, erster Diktator Paraguays
„EL Supremo" (1766-1840)
(4) John Esquemeling, Bukanier, Arzt & Schriftsteller (1645-1707)
(5) Bruce Chatwin, Journalist & Schriftsteller (1940-1989)
Kaliber 5 - Der Asanbosam
Eine Felsnase kragt über den Weiher, daneben strebt eine gewaltige Araucarie zum Himmel, die unteren Stachelblattäste bis auf den Boden gewunden. Trotz der Kargheit, trotz des nebelfeuchten Windes geizt die Natur auch hier nicht mit Vogelsang und Grillenzirpen, so dass Chauffeur Mimbrenjo gut gelaunt aus dem Führerhaus hoppt, die Hecktür aufschwingt und kundtut, dass sein Magen just ein wenig Füllung bedürfe und die Fahrgäste sich solange ebenso verköstigen oder die Füße vertreten möchten. Die Fuhre läge gut in der Zeit und das Städtchen Nombredelrio nur noch etwa zwei Fahrstunden entfernt - man möge die kleine Pause genießen, bevor die letzten Schaukeleien talwärts in Angriff genommen würden. In die Dunkelheit kämen sie ohnehin, der Renault sei aber gut beleuchtet und die Abfahrt unbeschwerlich, weil ausnahmsweise breit wie eine Avenida im fernen Madrid. Mimbrenjo setzt sich nach seiner Ansage auf einen Felsbrocken, der Brotbeutel gefüllt mit Käse, Speck und Bohnenbrot, dazu Bohnen-Kaffee aus der Feldflasche.
Abdul rutscht vom Beifahrersitz und legt ein paar Dehnübungen vor; Tenor und Tanzmädchen hangeln sich von der Ladefläche. Esmeralda scheint von der pittoresken Landschaft sichtlich beeindruckt: silberzitternder Weiher vor leuchtenden Bergzinnen und ein sich unter Nebelschleiern purpurn schminkender Himmel, grasende Ziegen und Schafe am Wegrand - das Mädchen, die Lämmer: Springinsfelde, die umher tollen und sich gelegentlich in zartem Blöken üben. Signore Tagliatelle schiebt sich den Strohhut ins Genick, gähnt und vokalisiert probeweise ein paar A-E-I-O-Us, derweil sich Abdul in die Büsche schlägt, wohl um sich zu erleichtern.
Hinter den Steinhaufen poltert es. Mimbrenjo kommt gleich hoch, auch der Rest der Gesellschaft schreckt auf. Aus einem Baumfarn-gesäumten Hohlweg rollt ein Fuhrwerk: mageres Pferd, drei Kerls mit Schnauzbärten unter Schlägermützen, am Leibe bunte Strickjacken, derbe Lederhosen, geriemte Waden, Holzpantinen - offensichtlich arme, aber ehrbare Berghirten, die jetzt vom Wagen springen und mit Decken umwickelte Stangen abladen. Sie gucken her, halten jedoch Abstand. Ziegen und Schafe gucken auch, meckern ein wenig, äsen jedoch beruhigt weiter Nur keine Aufregung!
Doch dem Paranusz stellen sich die Nackenhaare auf. Der Alte aus ElPaseo liegt ihm mit seinen Warnworten in den Ohren, und Mimbrenjo kennt selbst solche Momente, wo in krautiger Macchie Revoluzzer lauerten, keiner sah sie - und Peng! Also: „Sofort einsteigen!“ Tenor und Töchterlein traben gleich heran, man muss jedoch auf Abdul warten, der sich tief ins Gestrüpp gebohrt hat, das Geschäft war wohl größer. Doch auch er springt - sichtlich erleichtert - aus den Sträuchern.
Plötzlich ein dreifaches „Buenos Tardes!“ Da stehen die Hirten, grinsen freundlich. Die Fahrgemeinschaft grüßt halbherzig zurück, will ins Gefährt, als ihnen einer der Burschen den Weg verstellt, ein Pfannkuchengesicht mit blitzendem Goldzahn unterm Schnauz. Die beiden anderen nicken ebenfalls heftige Anteilnahme, Wein wird angeboten aus Ziegenbälgen. „Trinken, ihr müsst trinken! Auf die Freundschaft!“ Doch die Zuneigung bleibt einseitig; weder Paranusz noch die Lampedusischen oder Abdul zeigen Lust auf einen Trunk und weitergehende Schwätzchen - „Nein Danke! Keinen Wein nicht, gehabt euch wohl, gut Nacht und Adieu!“
Der Pfannkuchen blockiert den Weg, tut so, als mache er Platz, hat aber plötzlich das Mädchen am Arm. „Du musst mit mir trinken, kleine Prinzesse, Freunden schlägt man keinen Trunk ab, hörst du? Nimm meinen Wein, du rotes Hexlein!“, und drückt ihr die lederne Trinkflasche zwischen die Lippen, wobei er ihr Kleid und Gesicht vollsudelt.
Esmeralda kreischt, reißt sich los, „Finger weg, haut endlich ab!“, faucht Paranusz, schiebt den Kerl grob zur Seite, die Fahrgäste drücken sich hinter ihn.
„Missfällt den Herrschaften unsere Anwesenheit?“, lauert der Dritte, ein Fuchsgesicht, das Haupt gelockt, der Hut befiedert. "Mag man nicht mit uns trinken? Ihr beleidigt uns!“ Dem Hirtenvolk ist das Verbindliche schlagartig abhanden gekommen, man drängt sich knurrend um die Gruppe. Paranusz stößt die Kerle wieder zur Seite und langt nach seinem alten Schießprügel im Führerhaus. „Verschwindet, und hört auf, uns zu belästigen!"
Zwei der Rüpel halten plötzlich Flinten in den Händen. Der rüde Mundschenk keckert, er spitze immer auf Rothaarige, „rot wie scharfes Chili - besser noch als Gut und Gold!“ Schnappt wieder nach der Kleinen.
„Untersteh dich!“ schreits Väterchen und haut sein Bambusstöckchen mit Wucht auf den Greiferarm. Doch den Dicken kümmerts nicht, er wischt den Sänger zur Seite und hat das Mädchen bei den Haaren; die schreit Mord und Brand, während der zweite Bursche mit Hasenscharte unterm Schnauz die Doppelhähne seines