Der Winterkönig. Geschichten des Dreißigjährigen Krieges. Jörg Olbrich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Olbrich
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия: Geschichten des Dreißigjährigen Krieges
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783862825301
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entlang in die Tiefe. Die unzähligen Schläge gegen Arme und Beine nahm der Sekretär kaum wahr. Innerlich hatte er bereits mit dem Leben abgeschlossen.

      Der Aufprall in dem Graben vor dem Schloss erschütterte Philipps Körper. Er stieß mit dem linken Ellenbogen gegen einen Stein und schrie auf. Der Schmerz zog durch seinen gesamten Körper und schien keine Stelle auslassen zu wollen. Und doch – der Sekretär konnte es nicht fassen – hatte er den Sturz überlebt. Neben sich sah er, wie Martinitz versuchte, den scheinbar leblosen Körper von Slavata, dem das Blut aus einer Wunde an der Schläfe lief, aus dem Graben zu ziehen. Auch die Dienerschaft, welche die Burg beim Eintreffen der Rebellen verlassen haben musste, eilte den Statthaltern nun endlich zur Hilfe.

      Plötzlich krachten Schüsse von oben. Philipp schaute zu dem Fenster und sah, wie sich die protestantischen Grafen und Ritter dort zusammendrängten und ihre Waffen nach unten richteten. Zu seinem Glück behinderten sie sich dabei aber gegenseitig und schafften es nicht, einen gezielten Schuss abzugeben. Er musste hier weg.

      »Lauft in den Graben hinunter und macht der Sache ein Ende«, befahl von Thurn oben mit lauter Stimme.

      Die protestantischen Eindringlinge waren aber zu weit von der Stelle entfernt, an der ihre drei Opfer auf den Boden geschlagen waren. Jetzt geriet es ihnen zum Nachteil, dass sie allesamt in die Burg gestürmt waren und jeder bei der Verhandlung gegen die Statthalter hatte dabei sein wollen.

      »Geh nach Wien!«, befahl Martinitz seinem Sekretär. »Kaiser und König müssen erfahren, was heute hier geschehen ist.« Der Statthalter hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Brustkorb und schien große Mühe beim Sprechen zu haben. Seine Worte wurden von keuchendem Atem begleitet und waren fast nicht zu verstehen.

      »Ich kann Euch hier nicht alleine lassen«, entgegnete Philipp und sah seinen Herrn ängstlich an. Er selbst spürte stechende Schmerzen in den Ellenbogen und Knien, schien sich bei dem Sturz aber keine Brüche zugezogen zu haben.

      »Das musst du aber. Wir haben noch genug Freunde in der Stadt, die uns helfen werden. Sorge dich nicht um Slavata und mich. Geh nach Wien. Dort wird man wissen, was zu tun ist, um diesem gottlosen Treiben ein Ende zu bereiten.«

      Philipp sah, dass nun immer mehr königliche Soldaten und Diener auf den Graben zustürmten, um ihre Herren zu retten. Slavata wurde aufgehoben und von der Burg weggetragen. Zwei Männer stützten Martinitz, der mit dem rechten Fuß nicht auftreten konnte, und halfen ihm so bei der Flucht.

      Überall um die Burg herum erklangen Schreie. Mittlerweile schien sich halb Prag am Ort des Geschehens versammelt zu haben. Wenn Philipp dem Befehl seines Statthalters nachkommen wollte, musste er den Tumult nutzen und versuchen, unbemerkt zu verschwinden.

      Als er sich auf seinem linken Arm abstützte, gab dieser nach und der Sekretär fiel mit dem Gesicht in den Dreck. Die Schmerzen waren unerträglich. Benommen schaute er auf den zerrissenen und blutdurchtränkten Ärmel seiner Jacke. Am liebsten wäre er jetzt einfach im Graben liegen geblieben und hätte auf sein Ende gewartet. Nein! So wollte er nicht sterben.

      Er mobilisierte seine letzten Kräfte, nahm seinen ganzen Mut zusammen und kroch aus dem Graben. Als Philipp merkte, dass sich niemand für ihn interessierte, humpelte er, so schnell es sein geschundener Körper zuließ, davon. Als er einige Minuten später die Moldau erreichte, kämpfte er gegen das Verlangen seines schmerzenden Körpers nach einer Pause an und überquerte hinkend den Fluss. Die Schreie an der Burg wurden leiser. Hinter sich konnte Philipp keinen Menschen sehen. Er war seinen Häschern also entwischt und für den Moment mit dem Leben davongekommen.

       ***

      In seiner Kammer packte Philipp nur die nötigsten Dinge zusammen. Er wusste, dass man ihn hier zuerst suchen würde und musste die Stadt so schnell wie möglich verlassen. Die Schmerzen in seinem Körper wurden mit jedem Schritt stärker. Seine Kleidung war an Armen und Beinen zerrissen und voller Blut von zahlreichen Schürfwunden. Es gab nichts, was der Sekretär jetzt lieber tun würde, als sich einfach auf sein Bett fallenzulassen und zu schlafen. Aber er musste sich in Sicherheit bringen.

      Weniger als fünf Minuten nachdem er das Haus, in dem er lebte, betreten hatte, verließ er es wieder. Die Zeit, sich wenigstens notdürftig zu reinigen und frische Kleidung anzulegen, nahm er sich nicht. Er ging zu einem Kutscher, von dem er wusste, dass er den Statthaltern treu ergeben war. Sie vereinbarten einen Treffpunkt, der etwa einen Kilometer von der Stadt entfernt war. Bis dahin musste sich Philipp alleine durchschlagen. Es war zu gefährlich, den Versuch zu unternehmen, in der Kutsche durch die Stadttore zu fahren.

      Der Weg zum vereinbarten Treffpunkt brachte Philipp an den Rand der Verzweiflung. Er stand mehrfach kurz davor aufzugeben. Mit jedem Schritt zog ihm der Schmerz durch seine Beine hoch bis zur Brust. Das Wissen darum, wie viel davon abhing, dass er Wien so schnell wie möglich erreichte, verlieh ihm jedoch die Kraft, sein Ziel zu erreichen. Graf von Thurn durfte mit seiner schändlichen Tat nicht durchkommen.

      Der Kutscher erwartete ihn bereits, als Philipp schwer atmend bei dem Mann ankam. Völlig fertig stieg er in die Fahrgastzelle und ließ sich dort auf eine Bank fallen. Schlafen konnte der Sekretär aber auch jetzt nicht. Jeder Stein, über den die Räder der Kutsche holperten, versetzte seinem Körper einen schmerzenden Stich und zwang ihn dazu, sich aufzusetzen. Die Tortur endete erst, als eine gnädige Ohnmacht ihn von seiner Pein befreite.

       Prag, 24. Mai 1618

      »Ich kann noch immer nicht fassen, dass Ihr diesen furchtbaren Sturz überlebt habt«, sagte Polyxena von Lobkowitz und sah ihren Gast kopfschüttelnd an.

      Trotz des Tumultes am gestrigen Tag war die Gräfin, wie immer wenn sie Besucher im Haus hatte, perfekt zurechtgemacht. Ihre braunen Haare waren streng nach hinten gekämmt und am Hinterkopf zu einem Knoten gebunden. Sie trug ein mit Blumen besticktes Kleid, dessen Kragen ihre Wangen zur Hälfte bedeckte.

      Sie hatte die beiden Statthalter nach dem Anschlag in ihrem Palais aufgenommen und für die Pflege der Verletzten gesorgt. Nun saß sie gemeinsam mit ihrem Ehemann Diepold von Lobkowitz und Jaroslav Borsita Martinitz im Speisesaal ihres Anwesens. An den Wänden des Raumes zeigten kostbare Porträts die lange Geschichte der Adelsfamilie und den Reichtum der von Lobkowitzes.

      »Die allerseligste Jungfrau Maria hat uns mit ihrem Mantel in den Lüften gehalten und zur Erde getragen.« Martinitz hatte seinen geschwollenen Fuß zum Kühlen in einen Wassereimer gestellt. Ansonsten hatte er den Sturz wesentlich besser überstanden als sein Kollege und lediglich ein paar Kratzer im Gesicht und an den Händen.

      »Wenn das so ist, muss das böhmische Volk von dieser Rettung erfahren«, erklärte Polyxena bestimmt. »Es ist wichtig, dass die Leute erkennen, dass der katholische Glaube der richtige ist und gottesfürchtige Menschen vor den protestantischen Rebellen geschützt werden.«

      »Graf von Thurn und seine Mannen werden sich auch dadurch nicht aufhalten lassen«, gab Diepold von Lobkowitz zu bedenken.

      »Kaiser und König werden den protestantischen Ständen diesen Frevel nicht durchgehen lassen«, entgegnete die Gräfin. »Sei du lieber froh, dass du vor tätlichen Angriffen bewahrt wurdest. Wien muss erfahren, was hier geschehen ist. Es müssen sofort Maßnahmen getroffen werden. Nicht auszudenken, was passiert, wenn die Rebellen ihre Macht in der Stadt erst einmal gefestigt haben.«

      »Unser Sekretär ist auf dem Weg dorthin«, sagte Martinitz.

      »Dann hoffen wir, dass er auch dort ankommt und der Kaiser die richtigen Schritte in die Wege leitet.«

      Diepold von Lobkowitz nickte zustimmend. Martinitz wusste, dass er es nicht wagen würde, sich vor anderen Personen offen gegen sein Weib zu stellen. Er selbst akzeptierte den evangelischen Glauben durchaus neben den katholischen Werten. Vermutlich hatte ihn diese Tatsache davor bewahrt, ebenfalls aus dem Fenster geworfen zu werden. Für seine Gemahlin galt diese Einstellung aber genauso wenig wie für Martinitz und Slavata.

      »Wie geht es unserem geschätzten Kollegen?«

      »Er schläft noch und erholt sich von den Verletzungen«, antwortete die Gräfin. »Ihn hat es deutlich ärger getroffen als Euch.«