Marie Magdalene, die in ihrer Familie nur Lena oder Leni hieß und sich dann mit zwölf selbst den Namen Marlene geben sollte, hatte andere Interessen. Als kleines Mädchen brannte sie darauf, endlich eingeschult zu werden, aber dann wurde ihr die Schule schnell langweilig. Ein Pflichtprogramm, nicht viel mehr. Dabei musste sie sich gar nicht besonders anstrengen. Sie bekam gute Noten, schrieb gute Aufsätze, tat, was von ihr verlangt wurde. Aber damit erfüllte sie eben nur ihre Pflicht. Nie wäre es ihr eingefallen, wie Liesel stundenlang zu lesen. Sie spielte lieber auf ihrer Mandoline oder auf der Geige; sie malte, bastelte und dekorierte ihr Zimmer und die Musikinstrumente mit bunten Seidenbändern. Allzu viel Zeit für solche Beschäftigungen blieb ihr nicht. Denn nach der Schule war ihr Arbeitstag noch lange nicht zu Ende.
Noch bevor sich Liesel und Leni an die Hausarbeiten machen konnten, erwartete sie Miss Wolf, eine Privatlehrerin, die mit ihnen englische Konversation übte. Vor dem Abendessen, das immer schweigend eingenommen werden musste, hatten sie sich mit der Geige und dem Klavier zu beschäftigen. Nach dem Essen kam eine weitere Privatlehrerin, »Mademoiselle« genannt, um sie in französischer Konversation und im Aufsatzschreiben zu unterrichten. Dreimal die Woche stand außerdem orthopädisches Turnen auf dem Programm, und später kam noch die Tanzschule dazu sowie – speziell für Marlene – Ballettunterricht.
Kurze Zeit nach dem Tod ihres Mannes zog Josephine Dietrich mit ihren Töchtern nach Berlin. Damit war sie wieder ihrer Mutter näher, die für Liesel und Leni bei den wechselnden Lebensumständen, die noch auf sie zukommen sollten, wie ein Fels in der Brandung war. Die Enkeltöchter nannten sie Eimimi. »Eine hochintelligente, gepflegte Dame, die vom Alter nichts wissen wollte, die uns sehr liebte«, wie Liesel viele Jahre später schrieb. »Eimimi, unsere Großmutter, brachte Glanz und Schimmer. Wir bekamen die herrlichsten Geschenke, Bouillon mit Fleischpastete, Eis, den herrlichsten Kuchen.« Manchmal holte Eimimi ihre Enkeltöchter mit der Kutsche von der Schule ab, und jeden Sonntag lud sie sie in ihre elegante Wohnung ein, in der ein Zimmer eigens für die beiden Mädchen eingerichtet war – mit Kindertapete, Sofa und Puppenhaus. Besonders entzückt waren Liesel und Leni, als Eimimi ihnen eine Laterna magica schenkte. Unter den Bilderserien war auch La Traviata. Marlene konnte gar nicht genug bekommen von den bezaubernden Bildern. Sonntagsnachmittags fuhr ihre Großmutter mit Josephine und den Enkeltöchtern in den Grunewald. Bei den anschließenden Spaziergängen gab es Kaffee und Schokolade, Eis und Kuchen. Aber anders als Liesel war Marlene davon gar nicht begeistert. Viel lieber hätte sie mit den Jungs aus der Nachbarschaft Späßchen ausgeheckt.
Auch wenn die Familie im Sommer an die See fuhr, spielte Marlene meist mit Jungen. Am liebsten zog sie mit der »Strandkompanie« herum. »Du betteltest so lange, bis Mutti es erlaubte«, schrieb Liesel ihr später. »Bald warst du immer Leutnant, es gefiel Dir sehr. Du hattest Deine Leutchen schön im Zug und ließest sie exerzieren.« Während Liesel an ihrer Strandburg werkelte, kommandierte Marlene ihre Soldaten, die fahneschwenkend an ihr vorbeimarschierten.
Liesel erinnerte sich auch, wie Leni sich in ihren »Seppl-Hosen« gefiel. »Dazu hattest Du ein passendes Hemd und ein grünes Hütchen. Am liebsten wärst Du mit den Seppl-Hosen zur Schule gegangen.«
Sogar ihre Mutter konnte darüber lachen. Bei aller Strenge, allen Erziehungsbemühungen vergötterte sie Marlene, die sie »Pussycat« nannte. Stolz beobachtete sie, welche Fortschritte Leni auf der Geige oder beim Tanzen machte, stolz applaudierte sie, wenn »Pussycat« bei einer Schulaufführung in der Hauptrolle glänzte oder wenn sie »O sole mio« sang. Liesel dagegen löste auch mit den besten Noten keine Begeisterungsstürme bei ihrer Mutter aus. Josephine spürte dies selbst. Sie mühte sich, auch die Älteste nicht zu kurz kommen zu lassen. Aber sie musste sich dazu zwingen – und man merkte es ihr an. Von Herzenswärme konnte keine Rede sein.
Von inniger Liebe war auch Josephines Beziehung zu dem Privatgelehrten Ulrich Gustav Heinrich Bünger nicht geprägt. Trotzdem heiratete sie den Doktor der Philosophie am 22. Juni 1909. Bünger war am Tag der Trauung bereits vierzig Jahre alt. Alles deutet auf eine Vernunftehe. Die verwitwete Juwelierstochter, die man meistens in hochgeschlossenen Blusen sah, hatte schließlich auch schon ihre Jugendzeit hinter sich. Außerdem war der Angetraute gesellschaftlich durchaus vorzeigbar: Oberlehrer an der Berliner Schillerschule, promoviert, gebildet. Trotzdem wurde die Ehe schon nach zwei Jahren wieder geschieden. Der ehrbare Mann aus Pommern hatte sich, heißt es, bei all seiner Bildung schlicht als Langweiler erster Güte erwiesen.
Nach der Scheidung nahm Josephine wieder den Namen Dietrich an. Es wurde finanziell eng. Aus der kurzen Ehe ließen sich keine Versorgungsansprüche ableiten, die Witwenrente reichte hinten und vorn nicht, und das Juwelier- und Uhrengeschäft ihrer Eltern hatte Josephines jüngerer Bruder Willibald geerbt.
Und Onkel Willi lebte auf großem Fuß. Marlene und Liesel konnten nur staunen, wenn sie ihn in seiner großen Wohnung in der Liechtensteiner Straße besuchten, wo es immer so intensiv nach russischen Zigaretten roch, von denen er, wie man sich erzählte, pro Tag um die hundert rauchte. Hier trafen sich auch allerlei Künstler, darunter der Tenor Richard Tauber und viele Theaterleute. Josephine hielt von diesen »Zigeunern«, wie sie sich ausdrückte, rein gar nichts, Marlene dagegen fühlte sich magisch zu ihnen hingezogen. Im Sommer verbrachten die beiden Schwestern viele Tage in Onkel Willis Landhaus am Wandlitzer See, wo man nach Herzenslust schwimmen oder in der Sonne liegen konnte.
Natürlich aber wollte Josephine Dietrich ihrem Bruder nicht auf der Tasche liegen und nicht auf milde Gaben ihrer Mutter angewiesen sein. Sie entschloss sich, eine Arbeit anzunehmen. Zwar hatte sie keinen Beruf gelernt, war aber in allen Bereichen der Hauswirtschaft ausgebildet und erfahren. So traf es sich gut, dass der Offizier Eduard von Losch im Frühjahr 1912 eine gepflegte Dame suchte, die seine Berliner Wohnung in Schuss hielt.
Der Oberleutnant, am 20. Dezember 1875 in Dessau geboren, entstammte einer adligen und zugleich wohlhabenden Familie und hatte bereits die Welt gesehen. Schon 1904 war von Losch als junger Offizier vom Kaiser für zweieinhalb Jahre nach China entsandt worden. Nach einem zwischengeschalteten Studium der Sinologie war er 1909 noch ein zweites Mal nach Peking zurückgekehrt, um die Schutzwache der deutschen Gesandtschaft zu verstärken – ebenfalls für die Dauer von zwei Jahren. Etliche Vasen, Bilder und Möbel aus dem Reich der Mitte zierten jetzt seine Junggesellenwohnung. Und der weitgereiste Offizier wusste die Dienste seiner Haushälterin bald sehr zu schätzen – zunächst in Berlin, später in Braunschweig und in Dessau. Oft war von Losch auf Manövern in Ostpreußen oder Pommern, aber wenn er dann in seine blitzblanke Wohnung zurückkehrte, erwartete ihn immer ein Festschmaus, veredelt durch Kerzenschein und den Duft frischer Blumen. Auch Josephines Gegenwart als Frau trug zu seinem Wohlbefinden bei. Allmählich kamen sich die beiden näher, und das Dienstverhältnis wandelte sich in eine Liebesbeziehung.
Ihre Töchter ließ Josephine von Gouvernanten, jungen Mädchen vom Lande, betreuen, während sie sich um den Oberleutnant und seine Wohnung kümmerte. Bald kam die Idee auf, noch ein weiteres Mal den Bund der Ehe einzugehen, und Josephines Familie überwand ihre Bedenken schnell. Denn die Heirat mit Eduard von Losch verhieß nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern auch gesellschaftlichen Aufstieg. Es war ja nicht zu verachten, dass die Tochter der Juweliersfamilie künftig mit einem Adelsprädikat glänzen und den doch etwas anrüchigen Namen Dietrich, der so penetrant an Einbruchswerkzeug erinnerte, ablegen konnte.
Doch die Hochzeit im Sommer 1914 fiel außerordentlich schlicht aus. Nur wenige Gäste leisteten dem Brautpaar Gesellschaft, und nur vor dem Standesamt gaben sich Josephine und Eduard ihr Jawort. Ohne anschließenden Tanz und Hochzeitsbankett. Denn für ein rauschendes Fest war es nicht der rechte Zeitpunkt. Niemand konnte nun mehr darüber hinwegsehen, dass für Eduard von Losch und seine Kameraden bald der Ernstfall eintreten würde. Nachdem