Erst wenige Wochen zuvor sind in Bergen-Belsen die Pforten der Hölle geöffnet worden. Britische Soldaten haben das Lager in der Nähe des Truppenübungsplatzes erreicht und Baracken betreten, in denen sie auf ausgezehrte, neben Leichen kauernde Menschen gestoßen sind. Kinder mit alten Gesichtern, Frauen und Männer, zu Skeletten abgemagert – wimmernd, apathisch, halb irre vor Hunger, Durst und Schmerzen, an Typhus, Fleckfieber und Tuberkulose leidend. Viele sind schon wenige Tage nach der Befreiung gestorben. Sie wurden sofort in Massengräbern beigesetzt. Die drohende Pestgefahr ließ den Briten keine andere Wahl. Das komplette Lager musste desinfiziert und nach und nach geräumt werden. Etliche der befreiten Häftlinge sind aber an diesem Tag im Mai noch auf dem Lagergelände, wo sie jetzt die lang ersehnten Lebensmittel erhalten, wenn auch noch viel zu wenig: Kartoffeln, Rüben, ein bisschen Speck. Sie kochen im Freien. Überall glimmen Feuerstellen. Was brennbar ist, wird verheizt – egal ob Bretter oder alte Schuhe.
Die Kranken und Geschwächten werden auf dem benachbarten Kasernengelände notdürftig in Militärgebäuden oder unter freiem Himmel versorgt. Ein Teil des deutschen Lagerpersonals ist von den Briten dazu verdonnert worden, für die befreiten Häftlinge und die britischen Soldaten im großen Stil Essen zuzubereiten. Auch Elisabeth Will. Ihr Mann Georg, der einstige Kinobetreiber, muss Geschirr spülen. Auf eigenen Wunsch, wie Horwell betont.
Aber Marlene will nur ihre Schwester sehen. Horwell lässt sie zu ihr in die Kantinenküche bringen. Elisabeth schält gerade mit anderen Frauen Kartoffeln, als Marlene sie bemerkt. Die kleine Frau in dem grauen Kittel starrt die Uniformierte erst eine Schrecksekunde lang an, bevor sie begreift, wer da vor ihr steht.
»Leni!«
»Liesel.«
Nach einem kurzen Moment der Unsicherheit schließen sich die beiden in die Arme. Elisabeth weint, Marlene bleibt beherrscht.
Fast sieben Jahre haben sie sich nicht gesehen, seit Frühjahr 1939 auch nichts mehr voneinander gehört. Und nun auf einmal wieder vereint, zumindest für kurze Zeit. Liesel ist anzusehen, dass sie das alles noch nicht fassen kann.
Horwell schlägt vor, das Gespräch in seinem Büro fortzusetzen, und gibt Elisabeth die Möglichkeit, sich umzuziehen, während er schon mit Marlene vorfährt.
Als Elisabeth kurze Zeit später zaghaft das Büro betritt, muss Horwell schmunzeln. Mrs. Will sieht aus wie ein Hausmütterchen aus einem Witzblatt. Sie trägt einen großen, ziemlich geschmacklosen Strohhut, der ihr dauernd vom Kopf rutscht, sie ist klein, pummelig und vor Aufregung rot im Gesicht. Horwell, der immer noch Englisch mit deutschem Akzent spricht, bietet ihr eine Zigarette an. Elisabeth, deren Englisch fast ebenso gut ist, nimmt die Zigarette dankend an, schüttelt aber den Kopf, als Horwell ihr Feuer geben will.
»Thank you, Sir, but I don’t smoke.«
Marlenes Augen verengen sich zu Schlitzen, flüsternd herrscht sie ihre Schwester an, als würde sie mit einem unartigen Kind schimpfen: »Warum nimmst du die Zigarette denn überhaupt, wenn du gar nicht rauchst?«
Liesel schießt noch mehr Blut ins Gesicht, während sie die Zigarette zitternd hin und her dreht. »Oh, tut mir leid«, stammelt sie. »Aber das hat nichts damit zu tun, dass man Zigaretten hier als Ersatzwährung betrachtet, wie du vielleicht denkst. Gar nichts. Es gehört sich einfach nicht, eine Zigarette abzulehnen, die einem ein Engländer anbietet, weißt du? Das wird als Unhöflichkeit empfunden.«
Unhöflichkeit? Horwell, der das deutsche Getuschel versteht, lächelt versonnen in sich hinein. In einem Brief an seine Frau in London wird er schreiben: »Was ist das nur für eine Welt, in der die Leute in dieser Landschaft des Todes noch Wert auf solche Art von Höflichkeit legen?«
Marlene Dietrich hat ein Gespür für das Absurde der Situation, sie ahnt, welch unrühmliche Rolle ihre Schwester in dieser Maschinerie des Massenmordes gespielt hat, und sie bittet Horwell, ihr das Todeslager zu zeigen.
Doch der schüttelt nachdenklich den Kopf. »Tut mir leid, gnädige Frau, aber Unbefugte dürfen derzeit nicht auf das Lagergelände. Mit Rücksicht auf die ehemaligen Häftlinge. Die meisten sind in keinem guten Zustand. Außerdem herrscht nach wie vor Seuchengefahr. Nur Ärzten und medizinischen Hilfskräften ist der Zutritt gestattet. Sie müssen verstehen.« Der Brite bemerkt, dass seine Besucherin enttäuscht den Kopf senkt – und er erzählt, was er selbst gesehen hat.
»Ich habe ihr genug Details geschildert, um sie fast krank zu machen«, wird er seiner Frau schreiben. »Sie war kurz davor, sich zu übergeben.«
Aber der Gedanke an das monströse Grauen hindert ihn nicht daran, das Anliegen seiner charmanten Besucherin ernst zu nehmen. Eigentlich liegt ja die Behandlung des Wehrmachtpersonals, wozu auch die Wills gehören, in der Zuständigkeit der Militärregierung, doch er verspricht Marlene Dietrich, sich für ihre Schwester und den Schwager einzusetzen. Auch für eine Typhusimpfung werde er sorgen. »Ich tue, was ich kann.«
Marlene ist gerührt – und bemüht, sich dankbar zu zeigen, bietet sie dem Oberleutnant ein Foto mit Autogramm an. »Wunderbar«, sagt Horwell. »Ich werde es Suse schicken. Die wird sich freuen. Wir haben zusammen den ›Blauen Engel‹ gesehen. Wir waren begeistert. Wir haben tagelang Ihr Lied gesungen. Was sag ich? Wochen! Wochenlang! Wie ging es noch mal?« Moment, ja:
Ich bin die fesche Lola,
der Liebling der Saison,
ich hab ein Pianola …
… zu Haus in mei’m Salon. Marlene Dietrich presst unwillkürlich die Lippen zusammen, als ihr bewusst wird, dass sie mitgesungen hat. In dieser Umgebung. Auf Deutsch. Sie zieht ein Foto aus der Handtasche, signiert es mit feierlicher Geste und schiebt es zum Briten hinüber.
Mit dem Foto wird Horwell seiner Frau auch eine Zigarettenkippe schicken, an der noch Lippenstiftspuren seiner berühmten Besucherin haften – ein Souvenir, das von einer denkwürdigen Begegnung zeugt.
Für eine knappe halbe Stunde lässt Horwell die beiden Schwestern allein. Denn natürlich haben sich Liesel und Leni viel zu erzählen. Elisabeth berichtet von ihrer Sorge um den Jungen, der noch in Kriegsgefangenschaft ist, und vom Irrsinn der vergangenen Wochen, als die SS-Leute das Weite suchten und die Engländer anrückten. Wie die KZ-Insassen und Kriegsgefangenen freikamen und die Besatzer den Deutschen Vergeltung androhten. Ganz Bergen, hieß es, solle in den nächsten Tagen evakuiert werden. Ganz Bergen! Zum Glück habe sie jetzt diese Arbeit in der Küche. Nicht schön, aber besser als Nichtstun, und man müsse wenigstens nicht hungern. Leider habe man sie aus ihrer Wohnung geworfen. Jetzt müsse sie sich mit ihrem Mann und vier wildfremden Leuten eine Kellerwohnung teilen. Sehr eng sei es darin. Scheußlich eng.
Marlene umreißt in knappen Sätzen, wie sie mit der US-Armee durch Europa gezogen ist und gegen das Kriegsgetöse angesungen hat – in großen Zelten oder unter freiem Himmel zwischen Panzern. Manchmal sei ihr gar nicht zum Singen zumute gewesen, sagt sie. Beide rätseln, wie es wohl ihrer Mutter ergangen sein mag, die immer noch in Berlin lebt zwischen all den Trümmern. Wenn sie denn überhaupt noch am Leben ist. Liesel hat schon seit einigen Wochen keine Nachricht mehr von ihr erhalten.
Für ein längeres Gespräch bleibt keine Zeit. Da General Bradley in München sein Flugzeug braucht, muss Marlene noch am selben Tag zurückfliegen. Außerdem ist auch die Konzertreise bei den US-Truppen längst nicht zu Ende.
Die Begegnung mit ihrer Schwester aber hat sie aufgewühlt. Natürlich hätte sie schon vorher wissen können, dass Liesel nicht ins KZ verschleppt worden ist, sondern dass ihr Umzug nach Bergen-Belsen mit diesem Kino zu tun hat. Sie hatten darüber ja sogar bei ihrem letzten Treffen vor vielen Jahren gesprochen. Aber die Einzelheiten, die sie gerade erfahren hat, machen ihr zu schaffen. Unvorstellbar, in welcher Gesellschaft Liesel den Krieg verbracht hat! Und in welcher Nachbarschaft. Aber die Schuld daran trägt aus Marlenes Sicht einzig Elisabeths Mann, ihr Schwager Georg Hugo Will. Der einstige Varietédirektor hat offenbar gemeinsame Sache mit den Nazis gemacht, und Liesel hat es nicht gewagt, sich gegen diesen – wie Marlene immer schon fand – »ungehobelten Kerl« zur Wehr zu setzen. Lange hat sie befürchtet, ihre Schwester und ihre in Berlin lebende Mutter würden von den Nazis unter Druck gesetzt,