Nach dem Anruf nahm sich Roland Utz, drei Jahre älter als Rebecca und von Beginn an im selben Ermittler-Team, noch die Zeit, sich den Schweiß der Nacht vom Körper zu waschen. Unter der Dusche kratzte er sich gedankenverloren am Hintern. Die Augen geschlossen, dachte er, dass er sich nie daran gewöhnen werde, dass Menschen sich gegenseitig umbringen. Das Wasser bahnte sich seinen Weg durch die Haare am Körper und verschwand im Abfluss. Beim Abtrocknen hatte er einen Niesanfall.
Verdammter Heuschnupfen. Der Kaffee war durch die Maschine gelaufen. Schwarz. Dazu eine Zigarette. Dann aufs Fahrrad. Der Kriminalhauptmeister brauchte zehn Minuten ins Büro.
René Streitenberger. Einundfünfzig Jahre alt. Verheiratet. Drei Kinder. Zwei im Studium. Eine pubertierende Tochter zu Hause. Kriminaloberkommissar. Seine Frau schlief weiter, als das Telefon im Parterre penetrant klingelte. Sein unruhiger Schlaf erfuhr Befreiung.
„Ich habe verstanden. O.K.! Scheiße! Bin gleich da.“
Schnell ein halbes Brötchen mit Nutella. Er hielt mit seinem Wagen kurz beim Bäcker, holte sich einen Kaffee zum Mitnehmen und verbrannte sich die Zunge. Er hatte schlechte Laune, als er um kurz nach sieben Uhr im Besprechungszimmer stand. Die Chefs waren natürlich schon da. Und er, wie immer, der Letzte. Die Blicke kannte er schon.
„Guten Morgen, Kollegen.“
Rufer war nervös. Er war der Leiter der Kriminalinspektion.
„Unangenehme Geschichte. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Im öffentlichen Toilettenhäuschen, unten am Mainufer, Höhe Arbeitsamt, fand man die Leiche eines Mannes. Das Ganze wurde anonym über eins, eins, null gemeldet. Die Uniformierten sind vor Ort und sichern den Tatort. Hoffentlich ohne Spuren zu zerstören. Erste Meldungen, und jetzt wird’s interessant, sprechen davon, dass das Opfer ein Kollege ist. Alles deutet auf Mord hin. Die Auffindesituation: Hose nach unten gezogen, Flecken am Hals. Wir wissen alle, meine Dame, meine Herren, dass es sich bei der Toilette um einen stadtbekannten Schwulentreff handelt.“
Die Ermittler blickten sich an und schnauften im Gleichklang ein und hörbar aus.
Rufer, Briefmarkensammler aus Passion, exakt im Auftreten, ließ seine scharfen Augen über die Mannschaft blitzen. Das geräuschvolle Einziehen der Luft durch die Nasenflügel, nach jedem Satz, verriet seine Anspannung.
„Bei Hitze gibt es Ärger. Das war schon immer so. Wenn die Temperaturen steigen, nehmen die Aggressionen zu. Mehr Menschen auf der Straße. Mehr Alkohol. Längere Helligkeit. Alles Punkte, die der Kriminalität zusprechen. Wir müssen den Ball aufnehmen und das grausame Spiel beenden. Unangenehme Geschichte, das. Ich fordere zunächst absolutes Stillschweigen gegenüber der Presse. Das übernehmen wir. Frau Rust, ich übertrage Ihnen als frischgebackene Hauptkommissarin und Ihrem Team hiermit den Fall. Ich erwarte Diskretion und perfekte kriminalistische Aufklärung. Ich verlasse mich auf Sie. Enttäuschen Sie mich nicht. Viel Erfolg! Und informieren Sie mich über alles zeitnah. Unangenehme Geschichte, das.“
Mit einem blütenweißen Stofftuch wischte sich der Chef der Kripo den Schweiß von der Stirn und trank ein Glas Wasser in einem Zug leer.
Auf dem Weg zum Ort des Verbrechens wurde nicht gesprochen. Die Angst unter Kontrolle halten. Den Kollegen keine Blöße zeigen. Sich den Toten möglichst grausam entstellt vorstellen, damit einen die Realität etwas besänftigt.
Der BMW rollte über das Kopfsteinpflaster. Der Adrenalinspiegel stieg. Stickige Hitze drang durch die Lüftungsschlitze, um sich als zweite Haut an die Insassen zu schmiegen. Die Klimaanlage blieb, aus Rücksicht auf Rolands Heuschnupfen, ausgeschaltet.
Das Absperrband verhinderte die Weiterfahrt. Im Streifenwagen hatte ein Kollege den Beifahrersitz zurückgedreht und döste. Überstunden. Die Nacht hat ihren Preis. Ein zweiter übermüdeter Beamter kam auf den BMW zugelaufen. Schweißflecken unter den Achseln wirkten wie überdimensionierte Abzeichen des Sommers. Sie hatten das bambusfarbene Hemd dunkel gefärbt.
„Hallo, Rebecca. Hallo, René. Roland.“
„Morgen, Manni.“ Man kannte sich. Die Stadt war überschaubar.
„Rebecca! Ich kenne den Toten. Es ist Langner. Mein ehemaliger Ausbilder bei der Bereitschaftspolizei. Wir haben nichts verändert und niemanden durchgelassen. Er liegt dadrinnen. Verrückte Welt. Echt krass!“
Mit dem Daumen deutete er hinter sich auf das kleine Toilettenhäuschen aus Bruchstein.
„Soweit ich weiß, war der Mitteiler anonym. Wenn ihr jetzt übernehmt, hauen wir endlich ab. Ich schreib euch aber noch einen kurzen Vermerk.“
Die drei Ermittler zogen sich am offenen Kofferraum die weißen Schutzanzüge über. Sie diskutierten kurz, ob sie auf den Staatsanwalt warten sollten, bevor sie reingingen. Sie warteten nicht.
René hatte den Fotoapparat bereit. Rebecca testete das Diktiergerät. Roland kniete sich hin, um die Leiche zu untersuchen.
Der Gestank menschlicher Ausscheidungen nahm ihnen den Atem.
„Das beschissenste Klo in dieser Stadt!“, würgte René hinter seinem Mundschutz hervor und hellte mit dem ersten Blitz den gekachelten Raum unnatürlich auf.
Jeans und die schwarzen Boxershorts des Toten waren bis zu den Kniekehlen heruntergezogen. Er lag bäuchlings auf schmutzigen Fliesen. Den Oberkörper bedeckte ein weißes Kurzarmhemd. Auf dem nackten Hintern glänzte ein milchiges Sekret. Roland strich die Substanz in ein Reagenzglas und beschriftete es. Es sah nach Sperma aus. Es roch nach Sperma. Es war Sperma.
Grün schimmernde Fliegen umkreisten den Leichnam. Die Hitze unter den Schutzanzügen war unerträglich und durchtränkte die Kleidung. Rebecca musste darauf achten, nicht zu hyperventilieren. Roland eilte nach draußen, um eine Heuschnupfenattacke hinauszuniesen.
„Druckspuren am Hals. Moment, ich dreh den Leichnam jetzt um.“
Die Leiche rülpste. „Mahlzeit!“
Der Humor von Polizisten ist ein eigener. Ein Blick in die Mundöffnung. Routine.
Roland zog die bereits erstarrten Finger des Toten auseinander. In der Handinnenfläche der rechten Hand lag ein Zettel, darauf ein Wort, am Computer geschrieben:
ICH
„Ich weiß ja nicht. Aber mit den Schwulen komm ich nicht so ganz klar. Tun so, als seien sie die Liebsten der Gesellschaft. Haben bei Frauen ’nen echten Stein im Brett, und dann töten sie sich doch aus Geldgier oder Eifersucht oder was weiß ich. He Rebecca, guck mal!“
Flash! Ein Blitz zuckte durch den Raum, und Rebecca war Nummer 24 zwischen all den Leichenbildern.
„Fotografiere lieber die Kontakte an den Wänden und lass den Unsinn!“
Rebecca war genervt.
René kommentierte die obszönen Sprüche an den Wänden, als es Roland zu bunt wurde.
„Halt endlich die Klappe, René! Mach einfach deine Arbeit!“
Roland hatte im Geldbeutel, der in der Gesäßtasche des Toten steckte, dessen Dokumente gefunden. Der Kollege hatte Recht. Es war Christian Langner. Der Ausweis der Bereitschaftspolizei zeigte sein Konterfei. In der Börse befanden sich exakt 312,94 Euro. Sie stutzten. Sah nicht nach Raubmord aus.
Der Staatsanwalt, Jochen Bohm, war mittlerweile eingetroffen und ließ sich von Rebecca informieren. Sie kannten sich und hatten schon manchen Kampf vor Gericht ausgefochten.
Die Leichenbestatter warteten rauchend vor ihrem Mercedes. Die Tatortarbeit war erledigt. Die Männer in schwarzer Kleidung, die nach Schweiß stank, hoben den Verstorbenen in den schmucklosen Sarg.
Letzte Fahrt. Rechtsmedizin.
Die Sonne sandte ihre Strahlen, als wolle sie das Zink schmelzen und den Toten brandmarken.
Nachdem sie der Obduktion beigewohnt hatten, bat Professor Schwacke die Ermittler in sein Büro. Wie immer hatte er nüchtern und effizient die Leiche untersucht. Roland war den Obduktionen, denen er beiwohnen