Er warf Laura einen gequälten Blick zu. „Der Torschi, das eingelegte Essiggemüse und das strohige Brot, treiben dem Volk die Galle hoch. Uns läuft die Galle buchstäblich über. Mich würde es nicht wundern, wenn die Menschen bald übereinander herfallen. Hunger lässt nämlich Wolfszähne wachsen. Möge alles Übel sich von dir fernhalten, Ägypten!“
Laura fiel es schwer, Worte zu finden. Außerdem ließ er ihr gar keine Zeit zur Besinnung. Es schien auch so als erwartete er gar keine Antwort von ihr, als bräuchte er lediglich ein Ventil für einen langjährigen aufgestauten Zorn. Offensichtlich war er froh über die Gelegenheit, sich das Ganze von der Seele zu reden. So ließ sie ihn für zwei reden. Es war längst nicht alles zu verstehen, aber sinngemäß wusste sie, was ihm schwer auf der Seele lag.
Stolz holte er aus seinem alten Portemonnaie ein Bild heraus und seine Stimme nahm plötzlich den nachdenklichen Tonfall von jemandem an, der in einen alten schönen Traum versank: „Nasser!“, sagte er ehrfürchtig und legte den ganzen Stolz Ägyptens in seine Stimme. Eine Weile herrschte Stille, als würde er eine gebührende Schweigeminute einhalten, dann nahm er einen tiefen Atemzug, der einen gewichtigen Satz ankündigte.
„Ach Nasser! Dein Land braucht dich jetzt….“ In seiner Stimme schwangen alte rührselige Erinnerungen und so viel ermattete Sehnsucht. „Mich erfasst Wehmut, wenn ich an die alten Zeiten denke…“, setzte er nostalgisch fort und verstummte wieder mitten im Satz, schüttelte den Kopf, bevor er sich wieder seinen lauten Träumen hingab.
„Viele gescheite Leute bei uns sind heutzutage der Meinung, und denen stimme ich zu, dass wir einen neuen Gamal Abdel-Nasser brauchen.“
Er erzählte über Nasser als ob er ihn persönlich kannte und ihm nahestand. Wie einen geschätzten Arbeitskameraden: „Wir sagten zu Nasser…. Nasser sagte zu uns.“ Er verstand es, diese Geschichten so lebendig zu erzählen, dass Laura fast glaubte, sie selbst miterlebt zu haben.
„Der unsterbliche Anführer, der das ägyptische Volk verehrte und dessen Puls, Schlag für Schlag, fühlte. Das Inbild glühender Vaterlandsliebe und symbolischer Hoffnungsträger aller Ägypter: Fellachen, Arbeiter, Soldaten und einfache Menschen, wie ich. Zu seiner Zeit platzten wir vor Stolz. Der Ägypter trug den Kopf hoch. Sehr hoch, sooooo!“, sagte er voller Stolz und streckte seinen Kopf in die Höhe.
„Und heute?“, sagte er mit deutlichem Abscheu in der Stimme und machte eine Gebärde des Bedauerns, die auf den desolaten Zustand deuten soll. „Alle wollen bloß weg. Der moderne Auszug aus Ägypten!“ Er seufzte geräuschvoll und fuchtelte mit einer zusammengefalteten Zeitung, die auf dem Nebensitz lag, herum. „Junge Männer in ihrer ersten Blüte verirren sich in der libyschen Wüste und begeben sich in den Rachen des Todes, verfangen sich in dem heimtückischen Netz, das die ruchlosen und gewissenlosen Schlepper um sie herum spannen. „Schauen Sie!“, sagte er in herablassendem Tonfall und zeigte auf ein Bild von gestrandeten Leichen: „Selbst das Mittelmeer will sie nicht mehr und spukt sie aus wie bittere Früchte. Sie alle träumten davon, dass noch manch freundlicher Hafen auf sie wartete, mit immerwährendem Frühling. Hier gibt es keinen Frühling.“
Er hielt kurz inne, um dann schäumend weiter zu schimpfen. Laura schüttelte mitfühlend den Kopf. Er sprach von Doktoren, die mit ihm schichtenwechselnd Taxi fahren nur um sich ihre armseligen Hungerlöhne aufzubessern, wenn sie nicht gerade arbeitslos waren. Er sprach von Menschen, die ihre Organe verkaufen, um ihren kleinen Familien ein würdiges Leben bieten zu können.
Laura schüttelte bedauernd den Kopf, wusste aber nicht recht, wie sie den armen alten Taxifahrer trösten oder beruhigen konnte.
„Schwer vorstellbar, unglaublich“, sagte sie leise.
„Eine Unverschämtheit! Das ist unentschuldbar…“, sagte er heiser.
Er verstummte mitten im Satz und verfiel für einen kurzen Moment etwas beruhigt in träumerisches Schweigen. Im Radio des keuchenden Taxis lief gerade eine religiöse Morgensendung. Hingerissen lauschte er den Erzählungen, den Arm aus dem Fenster hängend, während Laura gerade noch den völlig verrauschten Ton mitbekommen konnte.
„Geduld ist schön. Wenn man im Leben geduldig wartet, kommt alles zu einem, als wäre es ein Stück von einem selbst. Wenn nicht diesseits, dann im Jenseits doppelt und dreifach… Das irdische Dasein sei nichts anderes als ein Acker für das Jenseits und Geduld ist sein Bewässerungskanal. Wer Geduld übt, dem gibt das Leben alles, was er begehrt“, sagte zuversichtlich der Prediger, der ein profundes Wissen über die Bewohner, die Geographie, die Schätze und die Animationsangebote des Jenseits zeigte.
Abd-Essabur lauschte angestrengt, wie der Tugendbold das Jenseits großspurig schilderte, so als hätte er dort gerade einen all inklusive Urlaub verbracht. Die vielen mit Brokat durchwirkten Ruhebetten, die Paradiesbewohnerinnen und die exotischen Früchte, die einem dort den Atem verschlagen. Es gibt keinen Dieselgestank und kein Verkehrschaos. Stattdessen gibt es bloß Ausritte auf geflügelten Pferden von einem Festmahl zum nächsten. Es wird nur noch geschmaust und bankettiert. Saftiges Fleisch und Weinflüsse ohne Ende, aus denen man so viel trinkt wie man möchte und dazu noch ohne Kater. Auf Abd-Essaburs Lippen hatte sich ein träumerisches Lächeln geschlichen. Er blieb eine ganze Weile still und seufzte erregt. Stöhnend träumte er von den lieblichsten Obstbäumen, unter deren Ästen er wandelte.
Das Stirnrunzeln war auf einmal ganz verschwunden und die Lippen bewegten sich stumm, als spreche er sein Gebet. Laura kam erst wieder ganz zu sich als sie erneut das Hupen hörte. Der Taxifahrer hatte nämlich einen nervösen Daumen, der in kurzen Abständen auf die Hupe drückte. Einfach so, als wäre das Hupen in seinen Ohren Musik.
Laura schaute auf die Datumsanzeige ihrer Uhr. Sie hatte das Gefühl, als sei die Zeit stehengeblieben.
30. März 2010.
„Wir müssen uns beeilen, bevor wir in dichten Verkehr geraten“, sagte er besorgt und drückte das Gaspedal bis zum Boden durch, während seine Hände sich fester um das Lenkrad schlossen.
Der Wagen holperte so stark, dass die Hand der Fatima schnell hin und her schwang - wie ein Pendel - und sie bekam Angst, dass das Taxi von einer der vielen Brücken abkommen könnte. Sie waren nämlich alle in einem schlimmen Zustand. Überall Spalten und Risse, manchmal fehlte gar der Brückenrand. Hier musste ein schwerer Wagen entgegen geknallt sein. Man konnte sehen, dass irgendjemand einen halbherzigen Versuch unternommen hatte, ein paar größere Löcher im Boden dilettantisch zu flicken. Die fehlenden Randstücke wurden jedoch nicht ersetzt und ließen den Blick frei auf das Chaos darunter.
Verkrampft starrte Laura aus dem Fenster in den ewigen Verkehr. Sie dachte für einen Moment, ihr Herz bliebe stehen. Sie versuchte sich zu beherrschen und suchte vergeblich nach einer Kopfstütze, einer Armlehne oder einem Griff. Von einem Sicherheitsgurt keine Spur. Schließlich empfahl sie sich in die Obhut des Himmels und ergab sich ihrem Schicksal.
„Der Herr stehe dir bei, Laura!“, sagte sie sich im Stillen und klammerte sich fest an ihren Rucksack. „Der Kairoer Verkehr ist halt nichts für hyperphobische Europäer“, dachte sie für sich.
Keiner hielt sich an Verkehrsregeln oder Geschwindigkeitsbegrenzungen. Lastwagen, die auf der ganzen Welt rechts fahren, fuhren hier links. Sie wechselten so schnell von rechts nach links und wieder zurück, dass einem schwindlig wird. Jeder machte sein Ding, jeder überholte wie und wann es ihm das gerade passte und jeder quetschte sich in eine noch so kleine Lücke. Aus zwei Spuren machten sie vier. Von allen Seiten wird laut und ärgerlich gehupt. Sie blinkten rechts und fuhren links. Doch hinter dem Chaos müsste ein System oder ein Code stecken, der für Außenstehende nicht leicht zu knacken war, grübelte sie und sie brauchte nicht allzu lange, um festzustellten, dass sämtliche Verkehrsteilnehmer sich einzig und allein, stillschweigend darauf geeinigt haben mussten, nicht miteinander zusammenzustoßen. Alles ist in bester Ordnung, solange alles in seinem natürlichen Chaos ist. Wer für Ordnung