Die Theaterarbeit in Aix ist weniger turbulent. Obgleich ich die Sprache beherrsche und keine traditionelle Schauspielausbildung durchlaufen habe, ist mir die Art, hier als Schauspieler aufzutreten, fremd. Mimik und gestische Darstellung der Mitspieler weichen in entscheidenden Nuancen von meinen Vorstellungen ab. Begleitende Darstellung neben der Sprache läuft kaum Gefühlen oder der Handlung parallel, eher entgegen. Ein Sensus für die Stellung einer Figur in Raum und Zeit, für Determination oder Herrschaft durch Sprache, spielt – in Stücken der offenen Form – eine große Rolle.
Aus dem Kreis der Theaterleute in Aix trat kein Freund hervor, in Frankreich lässt der intellektuelle Drang nach Erkenntnis den Eros der Darstellung hinter sich. Hinter die Figuren des absurden Theaters fällt so leicht kein großer Aktor zurück, das Subjekt ist für sie abgetreten, kaum einer versucht, eine schlüssige Handlung oder eine mit sich identische Person herauszuspielen. Sie haben gelernt, von Zeichen an den Zuschauer abzusehen, sie suchen vom Fragmentarischen aus, vom Paradoxen her zu agieren. Sie sind da nahe bei Knut, der sich nirgends festlegt, er stellt mir vieles frei, es allein zu finden, wie er als Regisseur den Spielern alle Freiheit lässt, das Begehren der zu verkörpernden Figur selber zu finden. Von Anfang an fand ich fast alle Rollen, die vor mir lagen, besetzt. So bleibt mir, mich auf freie Posten zurückzuziehen: die Ausritte, mein jeweiliger Unterschlupf, Cécile. – Cécile, die nach wie vor eine Immobilie an den Mann bringt, ist in jedem Ressort schnell zuhause. Ich könnte keinem Interessenten gegenübertreten, wüsste Boden und Bausubstanz nicht einzuschätzen, könnte keine Preisvereinbarung treffen, ihren Forderungen nicht standhalten; als Verwalter der Objekte halte ich sie gerademal recht und schlecht in Schuss. Eigentlich makelt Cécile nicht – oder nur so nebenbei, neben ihrer Theaterarbeit, aber gerade deshalb ist Cécile erfolgreich; so hat sie zu schließende oder geschlossene Vereinbarungen den Erwerb betreffend sehr vereinfacht. Sie verfügt über ein funktionierendes Netzwerk von Verbindungen und hat alles bis auf die Unterschrift vorbereiten lassen. Ihre Hinweise auf Mängel eines Objekts sind ohne Arg, jeder bemerkt freilich, dass diese Mängel leicht zu beheben sind. Cécile vergibt manches Objekt unter Wert. Sie hat nicht nur bei Anbietern einen guten Ruf.
Noch deckt Cécile meine Ausritte, von dem Leben, das ich führe, will sie gleichwohl nichts wissen, für sie habe ich längst abgehoben. Deshalb endet meine Suche nach ihrer Nähe, wenn ich sie dann doch wie ein Trabant von Ferne umkreise, wie die Begegnungen in Gedanken – nun ohne die obsessiven Schübe. Nach den großen Auseinandersetzungen gab es für sie nie den Bruch, sie hat sich langsam zurückgezogen, bis auf das Geschäftliche. Dabei ist Cécile – mit keinem allzu üppigen Vermögen im Hintergrund – äußerst großzügig. Geld, Überweisungen bedeuten aber für mich große Distanz.“
Nach dem Unfall in Aix hatten Cécile und Jean das Haus im Hinterland der Côtes d’Azur bezogen. Cécile arbeitete anfangs als Bühnenbildnerin in Toulon, hatte dann Erfolg in Stücken, in denen sie Figuren aus der zweiten Reihe spielte. Nicht dass sie durch ihr Spiel die Gewichtung der Figurenkonstellation verschob, in eher flauen Inszenierungen gelang ihr gleichwohl manches Kabinettstück. Dank häufiger Hervorhebungen ihrer gelungenen Auftritte und Fotos in Zeitungen war Cécile eine feste Größe am Theater und selbst in Collobrières ziemlich bekannt.
Damals baten Freunde Cécile, ihr aufwändiges Haus für sie zu verkaufen. Seit dieser Zeit saß Jean auf einigen repräsentativen Objekten, mit der Zeit auch auf Einödhöfen, Fabrikgebäuden, Dependancen von Weingütern, Kellerbehausungen… Nach dem Zerwürfnis mit Cécile kam er selten nach Collobrières, bewohnte reihum eine dieser Immobilien, die er zum Teil ausbauen ließ. Gäste, selbst Helga und Knut lud er in eine restaurierte Ölmühle.
Bei dem letzten Besuch – nach einer Pause von viereinhalb Jahren, betonte Helga – saß Knut oft allein im weitläufigen Garten oder war in den Bergen unterwegs, während Helga Jean ein Stück seiner Kindheit nachtrug. Für sie war Jan – in Frankreich Jean genannt – zu früh aus dem Haus gegangen. Jan hörte gern Einzelheiten von früher. Er war Nachzügler nach drei Mädchen. Schon nach der ersten Geburt hatte Helga eine Pause vom Theater genommen, aus der sie nie wieder heraustrat. Sie hatte die Schauspielerei nicht an den Nagel gehängt, war hinter Knut zurückgetreten, bei Inszenierungen weiterhin seine rechte Hand. Jean wusste, dass die Mutter glücklich war, wenn Knut Erfolg hatte, und Knuts Erfolge an großen Bühnen – nicht nur als Schauspieler – waren nicht zu übersehen. Jean äußerte sich damals mit keinem Wort zu Knut. Knut war für die Kinder immer da, auch jetzt jederzeit ansprechbar. Aber nicht nur Jean war längst bewusst, dass Knut meist irgendwo abwesend war, mit etwas Vordringlichem beschäftigt, wie wenn er auf der Suche sei. Dabei suchte Jean bei ihm Halt. Später hatte Knut ihm erklärt, dass ihn nicht die Texte, sein Auftritt oder die Inszenierung der Stücke umtrieben. Er suche bei jeder Figur, die er verkörpere, bei jedem Stück, dass er inszeniere, zu einer Erkenntnis zu gelangen, welches Bild vom Menschen – im Text verborgen – für ein Publikum heute zu entfalten sei. Große Dramen waren für Knut – gleichgültig ob offene oder geschlossene Stücke – immer autonome Gebilde, in denen es ein das Ganze durchdringendes, Knut sagte, zusammenschließendes Element gab: Eine Figur, die Art des Raumes, der Zeit, der Komposition, Sprache…, ein Problem hielt für Knut alles zusammen. Und er war andauernd damit beschäftigt das Ferment, das alles durchdrang und umschlagen ließ, zu finden. Er wollte einem Stück nie seine Kunst der Darstellung, seinen Stempel aufdrücken oder seine Auffassung herausspielen, er wollte das immanente Gesetz auffinden und für den Zuschauer hier und jetzt herauspräparieren.
Jean mochte ihm von Anfang an nacheifern und bewegte sich lange im Fahrwasser von Knut, aber Knut fand keine Gelegenheit, Jean den langwierigen Prozess darzulegen, eine im Stück angelegte Deutung für ein Publikum, das sich dem Zeitgeist widersetzte, aufzuspüren. Jean hätte das selber herausfinden müssen. Dazu fehlte ihm das Instrumentarium. Jean war zu jung, als sie ihn hatten ziehen lassen, er debütierte mit neunzehn in dem Stück eines regional bekannten Autors in Aix.
Helga vermied es bei Besuchen in Frankreich, mit einem Wort auf die Arbeit von Knut einzugehen. Knuts Schatten reichte dennoch bis nach Aix, und Jean mochte längst seine leise, unpathetische Art der Beschränkung nicht nachahmen, ihn trieb auch nicht der Wunsch, in einem Stück den dialektischen Dreh zu suchen; so kamen sich Knut und Jean – bei aller offenen Zuneigung und erhofften Innigkeit – kaum näher, aber Knut zeigte sich bei jeder Gelegenheit interessiert für Jeans Eigenheiten: Finessen an den Maschinen, die Hunde auf dem Grundstück, seine Vorlieben für Gestalten von Kleist, E.T.A. Hoffmann…, wie er halbwegs verschämt immer wieder andeutete, die Cécile seinen Wahn nannte. – Auf Céciles und Jeans Beziehung wollte Knut nicht eingehen, denn in dieser Beziehung spiegelten sich Knuts und Céciles Vorstellungen, Theater zu machen. Noch in Aix hatte Cécile in einem beachteten TV-Film einer Randfigur eine Präsenz und Bedeutung gegeben, die Saite eines Typs Frau – einer Streunerin – angeschlagen, wie er sich eben erst in der Gesellschaft zu zeigen begann. In ihrem vehement unberechenbaren Spiel, unverhohlen zu neuen Ufern aufzubrechen, hatte Jean eine Cécile gesehen, die er nicht gekannt hatte. Sie hatte einen Bann gebrochen, war plötzlich auch da umworben.
„Die großen Straßen und Boulevards durchschwinge ich, ich fahre sicher, mein Erscheinungsbild – bepackt und zielorientiert – ist bekannt, ich gelte nicht als Müßiggänger, mich verwechselt keiner, selbst Gangs, Motorradliebhaber, Kuriere, Azuro-Playboys, Geschäftsleute; in Bistros, die sie abklappern, bin ich eine unverfängliche Erscheinung. Dabei gehöre ich nicht dazu, niemand kann mich erreichen, schon lange nicht die