Ohne Fluchtpunkt 2. Winfried Klose. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Winfried Klose
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347087286
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voll von Spekulationen, Hypothesen, Verdächtigungen. Dieser zu allem entschlossene, kaltblütige Raser war kein Wahnsinniger, war Kurier, da drehten in Marseille welche das ganz große Rad. Bis jetzt hatte es nur Unfälle bei Polizeiaktionen gegeben, die glimpflich ausgegangen waren. Zwei PKWs waren bei Ausweichmanövern von der Straße abgekommen, Personen wurden leicht verletzt.

      Nach den Ausritten auf seiner Multistrada – den Reservetank fast leer gefahren – hockte Jean in Lederkluft noch vor einem dieser Gehöfte… In diesen heruntergewirtschafteten Immobilien waren kaum Vorräte, manchmal Wein; Cécile berichtete, dass er dann ein oder zwei Joints reinzog und – den Nacken über der Lehne eines Korbstuhls – über den Tag sinnierte, brisante Begegnungen in jeder Einzelheit durchspielte, sich irgendwo im Dach verkroch und oft noch stundenlang grübelte. In seine Welt ließ er niemanden ein: Je enger das Netz von Beobachtern, Kameras, Posten, elektronischen Fallen, Ortung von Details, Spuren der Maschine, Farbe der Helme, Ausscheidungen, Kippen… sich zuzog, desto weniger Fehler durfte er machen, desto vielfältiger seine Vorbereitungen, Verkleidungen, Übertretungen. Er ging alle Typen seiner Maschinen durch, die wechselnden Kennzeichen, er war oft ein anderer; fühlte sich als anderer genauso unfrei, wusste sich beobachtet, fuhr dennoch umsichtig, ging lässig, ruderte zu stark mit den Armen, nahm die Sonnenbrille häufig ab, saß – auf den ersten Blick ausgekühlt von durchrasten Strecken – vor Bistros, fror in der Sonne… Von einem Unterschlupf brach er früh auf, Häusern, die er vertrieb; er hatte Zugriff auf zwei geschlossene Kleintransporter, eine Pferdebox, kurvte auf der ewig gleichen Multistrada durch die großen Städte, die zugelassene Maschine stand in einer Stallung, in der Macchia eine Enduro für die Jagden. Je größer die Herausforderung, desto akribischer seine Planungen, desto tiefer versank er in Bereitstellungen, Vorkehrungen, desto grandioser die Auferstehung auf der Strecke; die ganze Region war hinter ihm her, er spürte die Faust im Nacken. In einer Mitteilung an Cécile war zu lesen: „ … alle Augen sind auf mich gerichtet. Die Strecke, die ich durchfliege, ist die Bühne – ich trete auf – gibt dem Ganzen einen Sinn, alles ist auf mich ausgerichtet. Fortan gibt es keinen Halt, ich reiße alles mit. Solange ich stillhalte, kriecht das Chaos hoch, ich muss sie herausfordern, immer wieder…“

      Von einem Tag auf den anderen hielt Jean auf den Straßen nichts mehr auf, am Anfang hätten sie ihn noch stellen können. Jetzt kannte er weder Regeln noch Verbote. Vormals war er leicht zu erkennen, fuhr eine einzige Multistrada, ohne Helm… Jetzt überholte er, wo es ihm einfiel, bei versteckten Kontrollen kehrte er nicht mehr um, er bremste an zu beschleunigen, tauchte ab, täuschte Volten vor, durchraste Untiefen, schob bergauf, kam Verfolgern entgegen, holperte über erkundete Pfade, durchwatete Geröllfelder, hob ab über Schrunde, Abgründe…

      „Es geht schon lange nicht mehr um das Beherrschen der Maschine, der Situation, es geht um Durchbruch, beim Schieben bergauf – mit heißem Atem, Fluchten durch Macchia, es geht um den Blutgeschmack am Gaumen, den Schmerz im Sprunggelenk wegzustecken; nichts darf hindern… Einmal an einer Leitplanke vorbei, setze ich auf Geröll auf, verziehe, Schulter und Motorblock schrammen Fels, und ich stürze bergab, da ist Karstgestein, das Vibrieren der Maschine, keine Stille… das Gesicht auf den Händen pulsiert der Herzschlag im Kopf, die Fahrt geht weiter, das Schweben hält an. Mit der Nachtkälte kommen erste Gedankenreihen, Wärmebildkameras könnten mich finden…“

      Lenz à Aix – une premiere en France“ hatten Tübinger Studenten ihr Stück euphorisch plakatiert. Jean tritt auf als verlorener Sohn – in der Streichholzfabrik. Lenzens Hin und Her zwischen Welten scheint Jean auf den Leib geschrieben. Cécile ist gekommen, und Jean begrüßt die Mitspieler wie aus weiter Ferne. Der Auftritt – mit schweren Beinen schreitend – ist nicht abwegig; aber nicht nur Cécile weiß um Medikamente und Alkohol. Jean kann die Trennung der Welten, das Hin und Her – in fremder Sprache und wie mit schwerer Zunge vorgetragen – nicht halten, lässt Gefühlen hier wie dort freien Lauf, er blutet vor allen aus, hätte den Lenz nie spielen dürfen. Das stille Tableau am Schluss, Lenz hinein in die Eiswelten der Vogesen, reist nichts raus, hilft nicht über die verstörende Stille. Einige Zuschauer schon wie auf der Flucht, Cécile unter den ersten, mit jedem ihrer verstohlenen Schritte – noch im Dunklen – wächst unwiderruflich der Abstand. – Jean durchrast wenig später die erleuchteten Straßen, die Ducati ist mit gelähmten Beinen schwer zu schalten, dazu Regen, grell aufleuchtende Lichtpunkte auf dem Visier, draußen glänzt Asphalt, Rücklichter… Ampeln im Tunnelblick, innen die alten Bilder, Lenz aus der Perspektive von Jean läuft ab, Jean auf dem Prüfstand vor Hunderten von Augen, das wäre der Lenz.

      Die nächste Ampel – Place de la Rótende – lässt ihn bremsen, und dann ist da schon die Schieflage von Anfang an und das endlose Schlittern, und Jean mit dem Schlittern einverstanden, lässt sich schlittern. Dann klemmt der rechte Fuß zwischen Mast und Maschine, kein Schmerz.

      „Auf der Unfallstation werde ich den Schlusssatz der Diagnose nicht los: …on ne peut pas aller bien loin – pausenlos im Ohr. Gegen Morgen die bekannten Bilder, Helga baut um Knut ihren Wall; ich ein Hänschen klein, wer führt mich in die Welt hinein? Ich rücke nicht aus, zuhause ein Kommen und Gehen, ich dabei, alle spielen mit, alle spielen Theater, spielen Rollen, heute so, morgen so, alle sind freundlich, alles steht gleich wichtig nebeneinander, genauso gleich unwichtig: Lachen und Weinen, Wachsein und Träumen, Trennung und Treue, Nähe und Ferne…, mich umarmt das Einerlei, dann schon im Strom der Dinge: Figuren aus Plastilin, Bilderbücher, Marionetten… Knut spielt alleweil mit, bringt Requisiten vorbei: das blaue Clownskostüm, eine Plastikschlange, Masken, Beffchen, Turban, Teddy mit einem Glasauge, das Xylophon…, der Strom reißt nicht ab, ich sehe mich Auffälliges bestaunen, nichts auseinandernehmen, zusammensetzen, und doch wächst es hoch, mir über den Kopf, und ich bin schon am Versinken, die anderen weit weg, winken…, da bin ich schon unten, im Wabern der Dinge, unten in Schieflage, im Kies, Schlick…, da hat es den Fuß schon umfasst, und es nutzt nichts, den freien nach unten zu stoßen, bei jedem Auftritt in Schieflage, die Bühne, der Ort zu straucheln, Widersinn schon beim stillen Deklamieren, auf der einen Seite die Gabe, aus einem Text mühelos herauszulesen, was trägt, und andererseits die sich ausbreitende Verzagtheit zu entscheiden, worauf die leeren Sätze zielen. Dazwischen kann ich nichts ausspielen, jeder Satz ein Spagat. Unversehrt vermag ich niemandem entgegentreten, nicht einmal im Spiel, er würde mich klein machen, erkennen, dass ich auf der Flucht bin, nicht gegenhalten kann, er würde sich Teile von mir einverleiben, meine Aufzeichnungen ausspähen, ist im Netz weltweit längst hinter mir her, hat einzelne Gedanken abgeglichen, Ängste und Vorlieben gespeichert, meine Vorstellungen von Gut und Böse in Relation gesetzt, weiß, dass ich Teile von mir leicht über Bord werfe, ihnen entgegenschleudere. Um etwas tief im Inneren vor mir zu retten, eine letzte Bastion, etwas Verlässliches zu halten, setze ich mein gefrorenes Lächeln gegen verbrauchte Mimik, bizarre Körpersprache, mein Stolpern und Zucken, gegen bekannte Gesten, Sprachformeln gegen Pathos… – Knut dagegen schützt dieser abwesende Blick, nach innen gerichtet, seiner Innerlichkeit nach, entfalteten Lebensträumen, spontanen Entwürfen; Knut hat die Gabe sich anderen im Moment bis in letzte Winkel zuzuwenden, zu folgen, mit Empathie – genauso freilich seinem Lebenstraum nach, den großen Wunsch aus der Kindheit freizuschaufeln, sich treu zu bleiben, nie im Augenblick verloren, Anhäger von Kristeva – vergisst er die Suche nach Glück; ich lange Zeit hinter ihm her, an ihm vorbeizukommen, auf der Ducati vor ihm her, mich zu lösen, von ihm, der Biker nicht mag, übersieht, nicht kennt, wie meine Behausungen – immerhin provenzalische Steinhäuser – für ihn kein Ort zum Verweilen, Objekte, seit Monaten, Jahren verwaist, so wie die Eigentümer starben, wegzogen, verkauften…, dabei von mir hergerichtet, auf mich zugeschnitten, dort spiele ich mit meinen Verfolgern, den Flics, den Schnüfflern von Interpol, die mich aufsuchen. Schon vor dem Anwesen Zeichen meines Schaffens, Anpflanzungen, Schafe in den Höfen, Habseligkeiten auf der Terrasse, als sei einer anwesend und lasse es sich gut gehen, täusche ich Wohnlichkeit, Lebensart eines Provenzalen vor, Gartengerät, Familientisch, Korbsessel, Wolldecken, Espressomaschine… laden ein, niemals ist einer näher getreten; wer genau hinschaute, sähe, dass einer auf dem Sprung vorbeikommt; Getier hat sich allenthalben eingenistet und vieles steht verbraucht, ein ferngesteuertes Programm sorgt zeitweise für Beleuchtung und leise Musik. – Bin ich zwei oder drei Tage anwesend, fühle ich mich fast zuhause; solange ich die nächsten Ausritte vorbereite, hat alles einen Sinn, bin ich Mittelpunkt dieser Welt der Vorbereitung. In zwei Objekten habe ich