„Mails bearbeiten wir aus Zeitgründen aktuell gar nicht. Und jetzt bitte ich Sie, sich bei einem der von mir vorgeschlagenen Call-Center zu bewerben. Das Ergebnis schicken Sie mir postalisch mit dem beigefügten Antwortschreiben zu“, erwiderte die Tares kühl.
Natürlich gibt es immer solche und solche. Auch beim Jobcenter. Aber, dachte Robert frustriert, dass dir zur Begrüßung noch nicht einmal die Hand gereicht wird, als ob du ein Leprakranker im fortgeschrittenen Stadium wärst, sagte doch alles. Wie ein Mensch zweiter Klasse fühlt man sich da. Wie auf dem Abstellgleis. Unter ohrenbetäubendem Tosen fuhr die U8 in den Bahnhof Berlin Westkreuz ein und riss Robert aus seinen Gedanken.
Nur noch wenige Meter trennten ihn von seiner Vierzimmerwohnung in der Holzmarktstraße in Friedrichshain. Das schicke Apartment konnte Robert sich leisten, weil seine Vermieter die Eltern eines alten Bekannten waren. Diese hatten ihm nicht nur den mühsamen Besichtigungsmarathon auf dem Berliner Wohnungsmarkt erspart, sondern kamen ihm auch mit der Miete entgegen.
Ganz anders als bei seiner ersten Singlebude, die er zu Münsteraner Zeiten bezogen hatte. Dreihundertneunzig Euro für knapp dreißig Quadratmeter. Ohne Balkon. Ohne Fenster im Badezimmer. Zweckdienlich, aber Küche, Schlaf- und Wohnzimmer in einem Raum vereint funktionierte nicht als Dauerlösung. Der eigentliche Hammer kam nach dem Auszug. Behielt der Bluthund von Hausverwalter die gesamte Kaution in Höhe von zwei Kaltmieten ein. Angeblich, weil das die notwendigen Renovierungsarbeiten erfordert hätten. Eine Dreistigkeit sondergleichen. Robert hatte die verrauchten Wände wieder weiß gestrichen und alles blitzblank geputzt. Die Vermieterin hingegen war in all den Jahren nicht für eine einzige Reparatur aufgekommen. Lediglich die Fenster wurden isoliert, natürlich inklusive entsprechender Mieterhöhung. Robert fehlten damals das Geld und die Zeit, um gegen den Verlust der Kaution juristisch vorzugehen. Sollten die Gierschlünde doch an der Kohle ersticken.
Seine Wohnung in Berlin dagegen erwies sich als echter Glücksfall. Er mochte das pulsierende Leben in Friedrichshain. Auch wenn der Stadtteil inzwischen zu hip geworden war. Zumindest empfand Robert das so, seit er als Arbeitssuchender nicht mehr offiziell zu den coolen Kreativen gehörte.
Die Dämmerung setzte bereits ein und wurde durch das gleißende Licht der Straßenlaternen kompensiert. Außer Robert, der jetzt vor der Eingangstür des Mehrfamilienhauses stand, in dessen erster Etage er residierte, war keine Menschenseele auf der Straße. Oder doch? Robert hörte leise Schritte und drehte sich um. Vor ihm stand eine junge Frau. Sie hatte ihre Arme hinter dem Rücken verschränkt und sich die Kapuze tief in das Gesicht gezogen. Dennoch spürte Robert, dass ihre Augen ihn fixierten.
„Kennen wir uns?“ Mehr fiel ihm in der paradox anmutenden Situation nicht ein. Sein Gegenüber blieb stumm. Robert wurde es langsam unheimlich. Hatte sie ihn etwa verfolgt? Im Gegensatz zu seiner sittsamen Heimatstadt Münster zogen in Berlin so einige Verrückte durch die Gegend. Menschen, die mit sich selbst sprachen. Laut vor sich hin fluchten. Oder Passanten anpöbelten. Die Fremde vor ihm war anders, starrte ihn einfach weiterhin an. Durchgeknallt, aber harmlos, beruhigte sich Robert. Oder kannte er sie sogar? Er konnte keine direkte Verbindung herstellen, doch die Statur und der schmale Mund … Ach, egal.
„Komm, verpiss dich“, presste Robert hervor, der diesen weiblichen Freak als Krönung seines misslungenen Tages ausmachte und einfach nur in seine Wohnung wollte. Hastig zog er den Haustürschlüssel aus der rechten Tasche seiner Jeans und steckte ihn in das Türschloss. Nicht ahnend, dass er sich schon bald nie wieder Sorgen über unfreundliche Behördenmitarbeiter oder bezahlbaren Wohnraum zu machen brauchte.
Ein Bier in der linken, eine Zigarette in der rechten Hand. Entspannt sitzen auf dem Balkon, der nur spärlich durch die Schreibtischlampe seines angrenzenden Zimmers beleuchtet wurde. Das war Fredericks tägliches Ritual nach der Arbeit, um abzuschalten. Abzuschalten vom nervtötenden Piepen beim Durchziehen der Artikel aus dem Produktsortiment des Lebensmittelladens, in dem er als Azubi im ersten Ausbildungsjahr tätig war.
Keine sechs Monate dabei und bereits jetzt ging ihm die stupide Arbeit auf die Nüsse. Und die Kundschaft erst! Manchen Einkäufern konnte es gar nicht schnell genug gehen – gereizte, laute Rufe nach einer zweiten oder dritten Kasse waren keine Seltenheit. Andere behaupteten, die Preise würden nicht mit den Angeboten aus den Prospekten übereinstimmen. Deren Überprüfung wiederum kostete viel Zeit. Zeit, welche die besagte erste Kundengruppe ja nicht hatte. Sein persönliches Highlight waren jedoch die Punks und Penner, die versuchten, ihre unbezahlten Schnapspullen an der Kasse vorbeizuschmuggeln. Frederick war es im Prinzip egal, ob jemand klaute. Bei dem kargen Stundenlohn war das nicht seine Baustelle. Wehe aber, der Filialleiter konnte später anhand der Videoüberwachung feststellen, dass einer seiner Verkäufer nicht aufgepasst hatte. Die Spätschicht ging sogar bis einundzwanzig Uhr. Und so mancher Berliner schien Spaß daran zu haben, diese großzügige Öffnungszeit bis zur letzten Sekunde auszureizen. Doch Frederick würde nicht ewig Wechselgeld rausgeben, Regale einräumen oder, wenn es hochkam, mal an der Fleischtheke aushelfen.
Musik war sein großes Ding. Er konnte Freestyle rappen wie ein junger Gott. Das sagten zumindest seine Freunde. Und Freunde belügen dich nicht, da war sich Frederick sicher. Sie hatten auch nicht ganz unrecht. Schließlich wurde der erste Platz beim Berliner Nachwuchswettbewerb Spreebeats an ihn und seine Jungs vergeben. Und wenn sie jetzt noch den szenebekannten, gut vernetzten Typ des größten lokalen Hip-Hop-Labels auf sich aufmerksam machen würden, konnte nichts mehr schiefgehen. Die Konkurrenz war groß, aber er, als echter Berliner, war doch wie gemacht für eine Karriere als Gangster-Rapper. Zwar kam Frederick aus gutbürgerlichem Hause und nicht von der Straße, aber bei den Genregrößen wie Bushido und Sido war doch auch alles reine Show. Als ob die sich täglich mit den Bullen prügeln würden.
Frederick sah sich schon in der prunkvollen Lobby des Hyatt-Hotels auf einen Journalisten der Juice warten. Während er lässig an einer Zigarre zog – Künstlern wie ihm würde man das erlauben – tuschelten die Gäste mit den Rezeptionsmitarbeitern darüber, dass mal wieder ein echter Star in dem 5-Sterne Etablissement zugegen war. Besonders die weiblichen Gäste natürlich, denn als VIP wäre endlich auch seine überschaubare Anziehungskraft auf Frauen Vergangenheit. Dass er in einem früheren Leben als Kassierer gearbeitet hatte, würde Frederick natürlich vertuschen, dem Interviewpartner stattdessen erzählen, er hätte mit kleinen Straßenauftritten den Grundstein für seine Karriere gelegt. Wer kauft schon ein Hip-Hop-Album, wenn die Vorgeschichte des Interpreten darin bestand, alten Damen zu zeigen, wo die Gemüsetheke ist?
Frederick spitzte den Mund und blies den Rauch in kleinen Ringen in die warme Spätsommerluft. Wenn er erst mal angefangen hatte, sich in seinen Tagträumereien zu verlieren, gab es kein Halten mehr. Die werden alle Augen machen, wenn ich auf der Bühne stehe und die Fans in der ausverkauften Mercedes-Benz-Arena meine Songs textsicher mitrappen. Besonders mit den Lehrern seiner Realschule hatte er noch eine Rechnung offen. Aus dir wird nichts, wenn du nicht büffelst, hatten sie immer gesagt. Bald würde er mehr Kohle bei einem Gig verdienen als diese Spastis in einem Jahr.
Fredericks Leben als gefeierter Star wurde jäh unterbrochen, als er einen kurzen, aber lauten Schrei von der anderen Straßenseite vernahm. Er erhob sich aus seiner Liege und richtete den Blick auf den Hauseingang gegenüber. Hatte der Typ den anderen gerade zu Boden gezogen? Frederick wohnte mit seinen Eltern im Erdgeschoss, er war also auf Sichthöhe, der Bürgersteig jedoch gute zwanzig Meter weit entfernt. Außerdem war es schon recht dunkel geworden. Wenn die Straßenlaternen doch nur heller leuchten würden. Frederick beugte sich vor.
Jetzt entkleidete der Angreifer den Oberkörper des regungslos daliegenden Mannes und fummelte mit irgendeinem Gegenstand auf dessen nackter Brust rum. War das etwa ein Messer?
Da wird gerade einer abgemurkst, schoss es ihm durch den Kopf. Panisch drückte er seine Zigarette in dem Aschenbecher aus und stellte die Bierflasche leise auf den steinernen Boden. Vorsichtshalber ging Frederick in die Hocke und betrachtete das Geschehen durch die Stäbe des Balkongitters.
Der Täter kniete mit dem Rücken zu ihm, eingehüllt in einen Kapuzenpullover. Zu seinen Füßen lag ein geöffneter Rucksack. Genau konnte Frederick die Situation nicht einschätzen. Aber dass sich der Mann dort drüben an einem leblosen Körper zu schaffen