Carolin hatte sich wieder einigermaßen gefangen und sah Timo mit geröteten Augen forsch ins Gesicht. „Der Faustschlag damals war eine Panikreaktion. Ich habe mich mittlerweile unter Kontrolle. Und den Brief wollte ich eigentlich gar nicht abschicken. Ich habe ihn nur verfasst, um mir meinen Frust von der Seele zu schreiben. Der Trip nach Berlin sollte mir wieder mehr Sicherheit geben. Gerade in einer anderen Stadt. Gerade allein. Klar, hätte ich jemanden kennengelernt, wäre das cool gewesen. Aber darauf kam es nicht an. Das ist auch alles Teil meiner Therapie. Ich gehe nämlich seit dem Vorfall im Schwarzen Schaf regelmäßig zu einer Psychologin – und zwar aus freien Stücken. Das war keine Auflage des Gerichts.“
„Trotzdem spricht vieles gegen Sie.“ Timo blieb beharrlich. „Entlastend ist lediglich, dass es am Tatort keine Spuren gibt und wir die Tatwaffe nicht bei Ihnen finden konnten. Das beweist aber gar nichts. Sie hätten diese auch einfach in die Spree werfen können.“
„Warum haben dann Ihre Polizeitaucher nicht danach gesucht?“ Der Anwalt schaute Timo herausfordernd an, als habe er soeben das Kennedy-Attentat aufgeklärt.
„Ein Skalpell in der Spree wäre wie die Nadel im Heuhaufen. Nicht zuletzt wegen der starken Strömung. Wir werden alles tun, um weitere Beweise zu finden, die Ihre Mandantin entweder be- oder entlasten. Aber eins noch.“ Timo richtete seinen Blick wieder auf Carolin. „Meine Kollegen haben mir mitgeteilt, dass Sie Ihr Mobiltelefon während der Berlin-Reise nicht dabeihatten. So können wir es natürlich auch nicht nachträglich orten. Können Sie mir erklären, weshalb Sie Ihr Handy nicht mitgenommen haben?“
„Na, weil ich von allen Bekannten Abstand halten wollte, ohne ständige Verfügbarkeit bei Facebook und wo man sonst heute noch permanent online sein muss.“ Carolin strich ihre blonde Lockenpracht nach hinten und schaute aus ihren tiefblauen Augen erst den Anwalt, dann Timo flehend an.
„Nun gut. Wir werden sehen.“ Timo hatte vorerst genug gehört. Sein Besuch in Münster diente vor allem dem Zweck, die Verdächtige persönlich kennenzulernen. Nur so konnten Tat und potenzielle Täterin auch gefühlsmäßig in Einklang gebracht werden. In diesem Fall jedoch sah er in dem zarten Mädchen nicht gerade die eiskalte Killerin, nach der sie suchten. Aber das behielt er vorerst für sich. Mit der gegenseitigen Zusicherung, sich über Fortschritte in den Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten, verabschiedete er sich von Kollegin Möllers, verließ das Polizeipräsidium am Friesenring und trat in die unerwartet sonnige Fahrradhauptstadt Deutschlands.
Timo war vorher noch nie in Münster gewesen. Dabei gehörte er nicht zu den Berlinern, die ihre Hauptstadt über alles stellten und nichts hören und sehen wollten vom Rest der Republik. Dennoch war die kleine Domstadt für ihn bislang ein weißes Blatt. Abgesehen vom SC Preußen Münster, dem hiesigen Fußballverein. Timo wusste um dessen Tradition als Gründungsmitglied der Bundesliga und hatte die Mannschaft sogar live erleben dürfen. Und zwar zu Zeiten der Regionalliga Nord im Mai der Saison 2004/05. Union gewann zu Hause denkbar knapp mit 1:0. Die Preußen aber hielten am Ende die Klasse, während Berlin sang- und klanglos in die Bedeutungslosigkeit abstieg. Bittere Zeiten für die Fans der Eisernen, bis sie mit ihrem Team 2009 als Tabellenerster der gerade neu eingeführten 3. Liga den Wiederaufstieg in die 2. Liga feiern durften.
Und dann war noch ein Kollege von ihm in Münster aufgewachsen. Der geriet angesichts der Schmuddeligkeit von Berlin immer wieder darüber ins Schwärmen, was für eine schön begrünte Studentenstadt Münster doch sei. Mit all seinen alten Gebäuden, der Geschichte des Westfälischen Friedens und der idyllischen Atmosphäre.
Dabei war es gerade das Dreckige, das Timo an Berlin liebte. Weniger im Winter als im Sommer, wenn Künstler, Kreative und clevere Jungunternehmer auf den Hund gekommene Locations in einladende Hinterhof-Ausstellungen oder Dachrestaurants verwandelten.
Da er noch ein paar Stunden hatte, bevor sein Zug nach Berlin fuhr, wollte Timo es sich bei strahlend blauem Himmel nicht nehmen lassen, die lebenswerteste Stadt der Welt einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Ein Titel, den Münster bei einem Wettbewerb im Jahr 2004 mit nach Hause genommen hatte, wie er von seinem Kollege wusste.
Timo stieg in seinen Wagen und programmierte das Navi auf das Parkhaus Theater in der Tibusstraße. Als er von dort aus wenige Minuten später zu Fuß den Prinzipalmarkt von Münster erreichte und die drei seltsamen Käfige am Turm der St. Lamberti Kirche beäugte, wurde er beinahe von einem rasanten Fahrradfahrer über den Haufen gefahren. Das Klischee der überbordenden Anzahl an Fahrrädern in Münster wäre schon mal bestätigt, dachte Timo, der sich durch den fluchend davonradelnden jungen Mann nicht die gute Laune verderben ließ. Vor dem Hauptkommissar erstreckte sich eine lange Kopfsteinpflasterstraße, eingeschlossen von gereihten Giebelhäusern unterschiedlicher Bauart. Links und rechts flankierten den historischen Straßenzug kleine Boutiquen für den großen Geldbeutel und traditionell westfälische Gaststätten. Bei angenehmen Spätsommertemperaturen spazierte Timo entspannt den Prinzipalmarkt entlang, bis er auf den Domplatz einbog, wo gerade der Wochenmarkt mit unzähligen Produkten aus der Region sowie Erbsensuppe und Waffeln die Besucher anlockte.
Dank eines üppigen Frühstücks verzichtete Timo auf das kulinarische Angebot und hielt sich an die Wegbeschreibung seines Handys zum Münsteraner Aasee, den er nach kurzer Internetrecherche als seinen heutigen place to be auserkoren hatte. Schnell noch ein Kiosk-Wegbier auf die Hand und schon saß er zwischen Familien und Studenten auf einer grünen Wiese mit Blick auf zahlreiche Tret- und Segelboote, die auf der ruhigen Wasseroberfläche ihre kleinen Bahnen zogen. Entschleunigend, dachte Timo und stellte die geleerte Radlerflasche neben sich ins Gras. Er breitete seine Jacke auf dem Boden aus und legte sich rücklings hin. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt und mit fest zusammengekniffenen Augen als Sonnenbrillenersatz nickte Timo nach einer kurzen Weile unerwartet ein.
Vier
Belustigt und angewidert zugleich beobachtete Robert, wie der Mann mit dem schütteren Haar im dunklen Business-Anzug versuchte, möglichst unbemerkt die Hundescheiße unter seinen feinen Herrenschuhen am Rand des U-Bahnsteigs abzuwischen. Scheiße war auch Roberts heutiger Tag gewesen. Frau Tares vom Arbeitsamt hatte ihm tatsächlich die Stellenausschreibung eines Callcenters ausgedruckt. Call-Center-Agent nannte man den Job eines Telefonisten heutzutage. Klang ein wenig nach James Bond. War es aber leider nicht.
Geschichten über diese Ausbeutervereine hörte man an jeder Ecke. Als ganz armes Schwein musste man sich sowohl von den eigenen Chefs als auch von genervten Kunden beschimpfen lassen. So wie Robert selbst ganz außer sich gewesen war, als sein Handyvertrag-Kundenberater einmal nicht schnell genug eine befriedigende Lösung parat hatte. Damals fühlte er sich im Recht – jetzt unangenehm berührt. So weit, dass auch er als Boxsack gefrusteter Teleshopping- und Versandhandelskunden fungieren würde, durfte es nicht kommen.
Der Geschäftsmann war wieder sauber und setzte sich auf eine der heruntergekommenen Wartebänke. Eine Sitzgelegenheit weiter lag ein Obdachloser in voller Länge auf dem Eigentum der Berliner Verkehrsbetriebe. Reichlich Bier- und Schnapspullen sowie eine kleine Plastiktüte, aus der Essensreste hervorschauten, komplettierten die traurige Großstadt-Momentaufnahme. Zudem verbreitete der bemitleidenswerte Mann einen üblen Geruch. Eine vorbeigehende Mutter zog ängstlich ihr kleines Mädchen zu sich, das sich neugierig auf den Jägermeister-Fan zubewegen wollte. Hoffentlich ist das kein Blick in meine Zukunft, dachte Robert, immer noch geschockt vom Termin beim Amt.
Er war nach seiner betriebsbedingten Kündigung bei einem Berliner Start-Up-Unternehmen jetzt bereits drei Monate arbeitslos. Doch was stellte sich die Drachenlady von der Agentur für Arbeit eigentlich vor? Grafiker wurden zwar gesucht. Aber nur mit jahrelanger Berufserfahrung. Und die hatte Robert nicht. Und dass sein Leben bislang nicht immer optimal gelaufen war, interessierte bei der Behörde sowieso keine Sau. Schon gar nicht Frau Tares. Während die Jobvermittlerin anfangs noch zu motivieren wusste – „Akademiker kriegen wir immer schnell in Arbeit“ –, zeigte sie alsbald ein anderes Gesicht. Da muss wohl jemand seine Quote aufbessern, vermutete Robert, als sie ihm mitteilte, dass der Staat kein Auffangbecken für schlecht organisierte Uni-Absolventen sei.
„Haben Sie denn meine Mail nicht gelesen? Ich hatte Sie auf eine Stellenausschreibung als Grafiker hingewiesen, in der eine Übernahme als Volontär