In meiner Verzweiflung weiß ich keinen anderen Rat. Ich muss die Liebe zu meinem Vater töten, damit er sie nicht mehr gegen mich verwenden kann.
„Geh weg. Du bist ein Sexmonster. Ich will deine perverse Liebe nicht“, denke ich wiederholt. Bindungstrauma.
Unbewusst reiße ich mir mit diesen negativen Gedanken jene ätherische Nabelschnur aus meinem Nabel-Zentrum, die mich mit ihm verbindet.
(11) „In jeder Beziehung zwischen zwei Menschen entstehen Bänderzwischen ihren Nabel-Zentren.“
Im Alter von dreizehn erkenne ich die Schreckensherrschaft meiner Mutter das erste Mal mit voller Wucht. Wahrscheinlich liegt es an meiner zweiten besten Freundin, die ich erst kürzlich kennenlernte, und an ihrer tollen Mutter, dass ich zu differenzieren beginne. Zwar hatte ich mit neun Jahren bereits durch meine erste beste Freundin einen Vergleich zu meiner Familie. Doch jetzt, als angehender Teenager, habe ich mehr Klarheit über die Verhältnisse zuhause.
Ich liebe meine Mutter. Aber ich hasse sie für all das, was sie mir antut.
Ich kann ihr nicht entfliehen, da ich eine Schülerin bin, die per Gesetz unter der Obhut ihrer Eltern stehen sollte. Ich bin weiterhin abhängig von der Mutter, die das Sorgerecht hat. Bindungstrauma.
Ich muss die Zähne zusammenbeißen und mich unterordnen. Unbewusst vermeide ich eh alles, was ihren Unmut auf mich ziehen könnte. Ich ziehe mich nicht nur äußerlich von Mama zurück. Die innere Distanz ist bald eine unüberwindbare Kluft in meinem Herzen. Lieber öffne ich mich für meine Ersatzfamilie. Bei meiner zweiten besten Freundin und ihrer Mutter bin ich stets willkommen. Da keift mich niemand ohne Grund an.
Längst lehne ich meine Mutter als Vorbild ab. Ich misstraue ihr in allen Punkten. Unter keinen Umständen möchte ich wie sie werden, eine Emotionstäterin. Meine Mutter ist ein Hausdrachen, der ständig Feuer nach mir spukt und versucht mich zu verschlingen. So jemand verdient meine Liebe nicht.
„Ich hasse dich. Ich hasse dich. Du bist ein Gefühlsmonster“, versuche ich mit diesen Gedanken die mentale Abnabelung zu meiner Mutter voranzutreiben.
Unbewusst reiße ich mir dabei die ätherische Nabelschnur aus meinem Nabel-Zentrum, die mich mit ihr verbindet.
Ich bin eine Jugendliche und muss ein zweites Mal in den Bindungsbruch gehen, um mich und meine Individuation vor Monstern zu schützen. Wiederholt flüchte ich aus einer Beziehung zu einem Menschen, den ich brauche.
Wieso bloß tut Liebe so weh?
Einmal überlege ich mir, freiwillig in ein Heim zu gehen.
„Ob das nicht besser für mein Seelenheil wäre?“, frage ich meine Freundin.
„Da kommst du vom Regen in die Traufe. Besser du kommst zu mir, so oft du kannst“, warnt sie mich vor einer möglichen Fehlentscheidung.
Was meine zweite beste Freundin sagt, leuchtet mir ein. In drei Jahren werde ich volljährig, dann haue ich sowieso ab. Das ist mein heimlicher Plan. Bis dahin sitze ich den Psychoterror zu Hause aus, nicht ohne eine dicke Schutzmauer, um mein Herz zu bauen. Ich schotte mich innerlich gegen den täglichen Zoff ab, in den meine Mutter oft meine mittlere Schwester mit hineinzieht, als bräuchte sie Verstärkung. Längst hat sie ihre zweite Tochter zu ihrer Verbündeten erkoren. Mit ihr fühle sie sich seelenverwandt, muss ich mir oft anhören. Meine mittlere Schwester hingegen lechzt seit ihrer frühen Kindheit, spätestens seit der Scheidung, nach ihrer Zuwendung als Kompensation für einen ablehnenden Vater. Damit bleibe ich innerhalb meines Familiensystems in emotionaler Isolation gefangen. Ich sterbe. Laufend sterbe ich. Dabei bin ich gerade Mal fünfzehn.
Meine Gefühle sind mittlerweile zu Eis erfroren, meine Traumfähigkeit verdampft wie ein kochendes Meer. Zurück bleibt pechschwarzer, zähflüssiger Teer, der meine Lebensenergie lähmt. Funkstille. Zwischen meinem Herzen und meinem Verstand stellt sich eine Disbalance ein, die sich ausgesprochen negativ auf mein körperliches Befinden auswirkt. Erste psychosomatische Beschwerden plagen mich. Inzwischen schlägt mir alles auf den Magen und die empfindliche Magenschleimhaut brennt wie Feuer. Ständig ist mir übel. Ich muss mich oft übergeben.
Zu allem Unglück bekomme ich einen brennenden, dunkelroten Hautausschlag, der wie eine Feuermaske mein ganzes Gesicht bedeckt. Es juckt wie tausend Ameisenbisse. Autoaggression. Ich konsultiere Ärzte. Aber die sind ratlos. Einer glaubt zu wissen, es könne eine gereizte Bauchspeicheldrüse vorliegen. In der Tat stellt sich nach jeder Mahlzeit ein schmerzhaftes Völlegefühl ein, einhergehend mit starken Blähungen. Doch die Medikamente der Schulmedizin bringen keine Linderung.
Nun plage ich mich mit dem Ekzem schon drei Wochen herum, als meine zweite beste Freundin ein zweites Mal Rat weiß. Da sie sich für Alternativmedizin interessiert besitzt sie ein großes Lexikon der Naturheilkunde. Gemeinsam stöbern wir darin nach einer geeigneten Therapie, und werden fündig. Ein Lösungsansatz lautet, mich einer dreiwöchigen Fastenkur mit Brennnesselblättertee zu unterziehen bei gleichzeitiger Anwendung einer Calendula-Wundsalbe. Genauso mache ich es. Und es wirkt. Die Feuermaske verschwindet nach cirka sechs Wochen. Gerade noch rechtzeitig, bevor ich meiner ersten großen Liebe begegne. Ich treffe ihn in einer Disco, die ich ohne das Wissen und die Erlaubnis meiner Mutter aufsuche. Er ist attraktiv, hochgewachsen und Postbeamter der mittleren Laufbahn.
Doch unser Glück wird von meiner eifersüchtigen Mutter überschattet. Eifrig kontrolliert sie unser Zusammensein oder besser gesagt, will sie unsere Liebe stören, in dem sie mir aus unfairen Gründen Hausarrest erteilt.
Ich bin sechzehneinhalb und beginne eine vierjährige Ausbildung, deren erstes Jahr schulischer Natur ist. Zu meinem Glück liegt die Berufsschule nahe der Wohnung meines Liebsten. Ich schwänze also werktags oft den Unterricht, habe Mut zur Lücke, um mit ihm Zeit zu verbringen. Damit wische ich meiner Mutter eins aus.
Da ich bei meiner ersten großen Liebe nicht übernachten darf, flüchte ich an den Wochenenden zu meiner zweiten besten Freundin in ihr großräumiges Dachstudio, so oft ich eben darf. Wir stricken Pullover, stöbern in dem Lexikon für Naturheilkunde oder philosophieren über Gott und die Welt. Mit ihr zu sein, öffnet mir mentale Räume, denn sie entwickelt sich zu einer Intellektuellen. Im Gegensatz zu mir macht sie Abitur und wird danach studieren. Ich bin nicht eifersüchtig auf sie. Vielmehr freut es mich, von ihr als beste Freundin respektiert zu werden.
Vielleicht mag sie mich auch deshalb, weil ihre Mutter sie darin ermutigt. Letztere unterstützt unsere Freundschaft, und insbesondere stärkt sie mein Ich.
„Du bist ein tapferes Mädchen“, sagt diese Mutter viele Male zu mir.
Sie sieht etwas in mir, worüber ich noch kein Selbstbewusstsein habe: die Kämpferin. Inzwischen haben die familiären, überwältigenden Erfahrungen aus mir eine starke Persönlichkeit gemacht. Ganz egal, was passiert: Ich überlebe. Ich bin nicht mehr länger wie ein schutzloses Löwenbaby, sondern wie eine kräftige Raubkatze.
Und noch etwas verändert sich in meinem Leben. Ich beginne, meine sozialen Kontakte auszuweiten. Zum Beispiel gesellt sich bald ein weiterer junger Mann dazu. Er ist sieben Jahre älter und wirkt vielleicht deshalb wie eine väterlich-fürsorgliche Instanz auf mich. Insgeheim taufe ich ihn Psychopompos. Da ich bereits einen Liebhaber habe, gebe ich ihm den Platz eines Seelenbegleiters. Er übernimmt die Rolle des Lebensberaters, wird meine Quelle für Naturwissenschaftliches sowie mein Lehrer für paranormale Phänomene. Letzteres ist sein Steckenpferd.
Mit ihm spreche ich über meinen Mutterkonflikt, den er übrigens mit seiner eigenen Mama hat. Ich erzähle Psychopompos sogar von meinen Albträumen, von denen der Postbeamte nichts weiß.
Mit Verstärkung an meiner Seite starte ich in das zweite Jahr meiner beruflichen Ausbildung. Es ist ein Praktikum, das ich halbjährig einmal im Altersheim und