Im Herzen sitzt eine unfassbare Trauer, als ertrinke ich in den Fluten eines großen Flusses. Und im unteren Bauchraum, knapp unterhalb des Nabels, wütet ein Schmerz wie ein Rammbock und löst einen suizidalen Klartraum aus. Harakiri.
Mit vorgebeugtem Oberkörper sitze ich im Fersensitz auf meinen Unterschenkeln. In einer Hand halte ich ein kurzes Schwert. Ich ramme es mir mit einem heftigen Stoß in den Unterleib, dorthin, wo der Schmerz wütet. Dann ziehe ich das messerscharfe Ding quer über meine Bauchdecke, von links nach rechts. Anschließend führe ich das Schwert mit einer schnellen Aufwärtsbewegung durch mein schmerzendes Gedärm hoch zum Bauchnabel.
„Es muss ein Ende haben. All dieses unerträgliche Leid muss endlich ein Ende haben“, denke ich verzweifelt, bevor es mich aus diesem Harakiri-Traum erweckt.
(12) „So bleiben für viele Trauma-Opfer am Ende nur noch die Resignation und der Wunsch, am liebsten tot zu sein. Selbstmordgedanken und Suizidversuche sind, so paradox das klingt, Trauma-Uberlebensstrategien von Trauma-Opfern. “
Für mich stürzte eine Welt ein.
Doch wo ein Ende ist, ist auch ein Anfang. Ich sammle Kräfte und ziehe in eine andere Stadt. Der Anlass ist, einen zweiten Bildungsweg zu beschreiten und meine Fachhochschulreife nachzuholen. Ich gebe meine Idee eines Studiums nicht auf. In einer Wohngemeinschaft finde ich vorläufig bezahlbaren Unterschlupf, den ich mit elternunabhängigem BAföG bestreite, das mir gerade rechtzeitig genehmigt wurde. Trotzdem jobbe ich nebenbei in einem Musikladen, damit ich einigermaßen über die Runden komme.
Das Fieber ist längst abgeklungen und mit ihm alle anderen Symptome meiner Nervenkrise wie die Halluzinationen. Doch der psychische Kollaps brachte etwas ins Fließen, das lange eingefroren war: meine Träume.
Ich träume wiederholt jene Albträume aus frühen Kindheitstagen, wenn auch in modifizierter Form. Auffällig häufig erscheinen da zunächst Träume mit Bombenexplosionen, Flächenbränden und Kriegssituationen.
(13) „Das Bild einer Explosion kann einen seelischen Zusammenbruch andeuten. “
Einmal stresst mich ein Albtraum, den ich lange nicht begreife. Er bringt Erinnerungen vom Mietshaus zurück, in dem ich mit meiner Mutter und den Geschwistern aufwuchs. Als Kind musste ich im Auftrag von Mama in dessen Keller hinabsteigen, immer montags, denn das war ihr Waschtag. Die Waschmaschine, die von allen Hausbewohnern benutzt wurde, lief nur, wenn zu jedem Waschgang eine gewisse Anzahl von 50-Pfennigstücken in den angeschlossenen Münzautomaten eingeworfen wurden. Es kostete insgesamt zwei Deutsche Mark pro Ladung. Meine Mutter schickte mich also zum Nachladen der 50-Pfennigstücke in den dunklen Keller, der von großen Kellerspinnen bewohnt war.
(14) „Der Keller verweist auf das Unbewusste. (…). Die Bedeutung derartiger Traumsituationen ergibt sich aus dem Symbolbegriff des Labyrinths. (…) Im Labyrinth fanden nach vielen Mythen Götterhochzeiten statt, die meist eine inzestuöse Vereinigung darstellten. So kann das Labyrinth im Traum das Signal für einen Mutterkomplex sein. “
Im Traum wandle ich also durch dieses Kellergewölbe. Ich halte den Atem an und scanne ängstlich die Wände und den Boden nach Spinnen ab. Seltsamerweise begegnet mir keine, wo sie sonst überall in Ecken sitzen.
Unvermutet stoppt es mich vor einem Kellerabteil, dessen Tür sperrangelweit offen steht, als erwarte man mich. Ich erkenne die Regale meiner Mutter, die mit Marmelade aufgefüllten Gläsern und verstaubten Gebrauchsgegenständen beladen sind. Und da entdecke ich das Grab. Es ist eine tiefe Erdmulde im Kellerboden. Darin liegt mein Stiefvater wie eine Leiche. Gelähmt vor Schreck starre ich in sein bleiches Gesicht, fassungslos, ihn hier begraben zu sehen.
Der Schock lässt mich im Traum luzide werden. Mit aller Bewusstseinskraft erwecke ich mich aus diesem Albtraum.
Mein Herz pumpt wie ein Berserker. Ich sitze stocksteif im Bett, bin unfähig, mich zu bewegen. Angstschauer jagen über meinen Rücken.
„Nein, nicht. Bitte nicht mein Stiefvater“, rufe ich verzweifelt aus, als wäre der Albtraum nicht zu Ende.
„Ich muss unbedingt die Botschaften meiner Seele verstehen lernen“, schießt es mir durch den Kopf. „Ich muss das große Buch der Traumdeutung finden.“
Wenige Stunden später finde ich es in einer meiner Umzugskisten, wo ich es beinahe vergessen hätte. Ein guter Freund meines Verlobten schenkte mir das Buch zu meinem zwanzigsten Geburtstag. Damals wusste ich nichts damit anzufangen.
„Bitte, lass meinen Traum keine Vorsehung sein“, bete ich im Stillen, bevor ich meine erste Traumanalyse mithilfe des Traumdeutungsbuches starte.
Nervös blättere ich im Anhang von A–Z, wo einige Traumsymbole mit ihrer Bedeutung erklärt sind. Doch ich kann mich schlecht konzentrieren. Ich werde von Erinnerungen an meinen Stiefvater überwältigt. Ich denke an den Moment, als ich ihn das erste Mal sah.
Ich war neun Jahre alt und zuhause bei meiner ersten besten Freundin, in der Küche ihrer Mama. Damals kamen ihr Liebhaber und dessen Geschäftspartner jeden Freitagabend, um das Wochenende mit einem Bierchen einzuleiten. Einer von ihnen brachte uns stets Geschenke mit wie Schokolade oder ein Kartenspiel. Auch lachte und scherzte er mit uns Mädchen. Ich mochte ihn auf Anhieb. Ich wünschte ihn mir als Vater. Später, da war ich circa zwölf Jahre alt, schmiedete ich Pläne, ihn mit meiner Mama zu verkuppeln. Die Mutter meiner ersten besten Freundin half mir dabei.
Nachdem die Erinnerung an die Oberfläche kommen durfte, schaffe ich es, die Traumsymbole zu studieren, die meinen Keller-Albtraum beherrschten. Zu meiner Überraschung sind alle im großen Buch der Traumdeutung beschrieben. Als hätten es die Mächte des Unbewussten für ihre Regie benutzt. Aufgeregt über diese Entdeckung lese ich sogleich über das Traumsymbol nach, das mir am meisten Angst gemacht hat: die Leiche im Keller.
(15) „Die sprichwörtliche Leiche im Keller ist auch im Traum ein äußerst ungünstiges Bild. (…) Im Traum ist es das Signal für eine seelische Vergiftung. Die Leiche erscheint als Symbol einer abgestorbenen, unbeseelten Seite der Persönlichkeit, eines zutiefst im Unbewussten vergrabenen Komplexes, der von der Psyche wie ein zersetzender Fremdkörper mitgeschleppt wird.“
Einerseits beruhigt es mich, dass der tote Stiefvater aus meinem Traum keine Vorsehung ist. Anderseits finde ich die Idee äußerst unangenehm, in meiner Psyche könnte sich ein Komplex wie ein zersetzender Fremdkörper befinden.
Ich blättere weiter im großen Buch der Traumdeutung und stoße auf eine Erklärung der Traumfigur Vater. Sie gilt als Symbol für traditionelle Ordnung und natürliche Autorität. Und im Traum einer Frau entspricht die Vaterfigur dem inneren Abbild des Männlichen. Vom Symbol Keller weiß ich, dass es auf einen Mutterkomplex hinweist. Soweit so gut. Trotzdem erschließt sich mir nicht das große Ganze meines Traumes. Mir fehlt die Erfahrung mit Traumarbeit. Wieso also liegt mein Stiefvater tot im Kellerabteil meiner Mutter?
Es dauert einige Jahre, bis ich zu dem Schluss komme, dieser Traum will mich auf den Ursprung meines Traumas aufmerksam machen: Die böse Königinmutter, die die Prinzessin wegsperrt und vor deren Gewalt auch der stärkste König kapitulieren muss. Vielleicht erhoffte ich mir, im Stiefvater einen Retter zu finden. Tatsächlich mischte sich dieser nie in die Erziehung meiner Mutter ein. So bleibt meine Seele eine ganze Weile wie im Labyrinth einer fürchterlichen schwarzen Tarantel gefangen.
(16) „In der Kindheit und Jugend werden im Gehirn die Nervenzell-Netzwerke angelegt, die später darüber entscheiden, wie eine Person ihre Umwelt einschätzt und interpretiert, wie sie Beziehungen gestaltet und wie sie mit den Herausforderungen umgeht, die das Leben bereit hält. “
Die Sprache meiner Seele bleibt vorerst ein schwer zu entschlüsselnder Code und der sich zersetzende Fremdkörper vergiftet weiterhin mein Ich. Was einmal als Überlebensstrategie gedacht war, die Bildung eines Komplexes (Seelenkapsel), lähmt stetig