Der weiße Farbabdruck auf der schwarzen Acryl-Spinne mutet abermals den Umrissen einer Spinne an. Doch diese scheint eine andere Spezies zu sein. Eine Weberin, eine Kreative, eine Magierin, die sich vom Joch ihrer aufoktroyierten Sexualität befreit. Letzteres markiere ich sogleich in knallroter Farbe mit einem Phallussymbol.
Ist es nicht das Patriarchat mit seiner entarteten Vorstellung über weibliche Sexualität und seinem daraus resultierendem schlechten Umgang mit einer Vagina, welches die Entfaltung intuitiver weiblicher Intelligenz bereits im Keim erstickt?
Und als gäbe es hierfür einen Hinweis auf die wahre Ursache dieses Problems, liegen die Spinndrüsen der weißen Spinne - eng verschmolzen mit der männlichen Genitale - vor dem gefräßigen Maul der schwarzen Riesenspinne. Tatsächlich definierte einst der Psychiater Freud diesen Achtbeiner als ein Symbol der alles verschlingenden Mutter. Kannibalismus.
Inzest kommt einem kannibalistischen Akt gleich, mit unheilvollen Auswirkungen auf Psyche und Geist. Sexuelle Gewalt verändert die menschliche DNA, gebärt Vampire, Zombies und andere dämonische Wesenheiten, die nichts anderes wollen, als sich von dem zu ernähren, durch den sie erschaffen wurden - dem Schmerz.
(26) „(…) the history of humanity is founded upon the abuse of children.“
So langsam ahne ich den Albtraum vieler Kinder dieser Erde. Ein Leben, das meist im Bauch einer traumatisierten Mama beginnt. Ein Schicksal, das den persönlichen Schmerzkörper übersteigt, ja vielmehr ein kollektiver Schmerz ist, der seit Beginn unserer Menschheit existiert.
Sexueller Missbrauch ist wie ein Parasit, der bereits die Seelen unsere Ahnen, wer weiß wie lange, schädigte, und der sich noch heute in unserer Gesellschaft viral vermehrt. Immer wieder kommen mir die Aussagen der Schulmedizin in den Sinn, die Folgen sexueller Gewalt würden Betroffene ein Leben lang verfolgen – keine Heilung in Sicht. Ich bin wild entschlossen, dagegen anzukämpfen. Ich möchte nicht mein ganzes wundervolles Leben lang, wie eine hilflose Fliege im Netz der gefräßigen Spinne gefangen bleiben.
(27) „Dergriechische Held Theseus besiegte das Ungeheuer, nachdem er von dessen Schwester Ariadne ein Wollknäuel erhalten hatte. (…) Ariadne, die auf die List mit dem Wöllknäuel verfiel, ist hier das Sinnbild für die intuitive Intelligenz des Weiblichen. Die geistig-seelische Verbindung zwischen Mann und Frau – hier symbolisiert durch den Ariadnefaden – ermöglicht es dem Helden, das gefährliche Abenteuer im Labyrinth zu bestehen.“
„Wie kann ich dir entkommen?“, frage ich die schwarze Spinne in meiner Seelen-Collage The Death, als könne sie mir antworten.
„ Ihr Männer und Frauen müsst zusammenhalten“, sagt die Weiße.
Ich, als feminines Wesen allein, werde das Patriarchat mit all seinen entarteten Vorstellungen über das Weibliche und den daraus geborenen männlichen und weiblichen Dämonen nicht verändern können. Hierfür braucht es Solidarität unter uns Weibsbildern, aber auch, und vielleicht insbesondere, eine geistig-seelische Rückverbindung zwischen Mann und Frau.
„Was ist ein Ansatz, der erste Schritt?“, zermartere ich mir den Kopf.
Ich weiß nur einen Rat, der mir naheliegend erscheint: Den Blick nach innen, sich seinen persönlichen Dämonen zuerst stellen. Unter Umständen zieht es ein kollektives Aufarbeiten automatisch nach sich.
The Death, 2004, Mischtechnik (Acryl, Kreide, Bleistift, Zeitung) auf Papier, 70 x 50 cm
„Liebe Mutter, lieber Vater ich kann nicht mehr. Die Last ist zu groß für mich. Ich habe keine Kraft mehr, diese Last allein zu tragen.“
Ich gehe mit bestem Beispiel voran. So denke ich es jedenfalls. Ich stürze mich in Persönlichkeitsarbeit, besuche Persönlichkeitsseminare, konsultiere Schamanen und nutze immer stärker meine eigenen intrinsischen Ressourcen, insbesondere nach der Initiation mit meiner Tierahnin Spinne. Und das alles, um meinen inneren Dämonen zu entkommen. Aber vor allem, um mich zu finden.
„Wer bin ich jenseits der sexuellen Missbrauchserfahrung?“, stellt sich mir die Frage aller Fragen.
Obwohl es seit der Rückkehr aus Australien, eine spirituelle Reise zu meinen Ahnen, die mich sehr veränderte, viele Lichtmomente gibt, scheint es weit bis zur Läuterung meines Geistes. Das Gefühl, gegen Windmühlen zu kämpfen, ist immer noch da. Auch zieht es nach wie vor, insbesondere im beruflichen Alltag, sämtliche Narzissten, Soziopathen und Borderliner in meinen Bann. Manchmal kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass sie mich verfolgen. Es scheint, als reagierten sie auf ein Schwingungsfeld, erzeugt vom ererbten Ahnenproblem, das sich weder mithilfe der Psychologie, der Religion, der esoterischen Ansätze oder einer positiven Lebenseinstellung verändern lässt. Etwas fehlt. Gleichwohl mir meine autodidaktische Kunsttherapie gut tut und ich während des Gestaltens einiges an seelischer Bürde loswerde, breitet die Depression ihre dunklen Schatten über mich aus. Immer wenn ich denke, ich habe es geschafft, erreiche ich einen noch tiefer liegenden Punkt meines seelischen Leidens. Ich weiß nicht, ob ich mich auf einer Abwärtsspirale oder Aufwärtsspirale befinde. Da ist eine schwarze Tarantel, die mich in der Anderswelt hartnäckig verfolgt. Sie ist die größte Widersacherin auf dem Weg zu mir selbst.
„Wer bist du?“, frage ich furchtsam die schwarze Riesenspinne.
Ich bin ungefähr 40-jährig, als ich einen Hinweis erhalte. Auslöser ist der Film „Der weiße Weg“, eine Dokumentation über ein historisches Zusammentreffen südund nordamerikanischer Stammeshäuptlinge und Schamanen. Sie wollen über dieses Medium ihre Botschaften zur Heilung und Wahrung der Erde vermitteln.
Im Vortragssaal sitze ich neben meinem Ex-Freund, dem Grünauge, und warte gespannt auf den Start. Gleich zu Beginn ertönt indianische Musik. Diese Klänge machen bei mir augenblicklich Gänsehaut. Sogar mein Herz schlägt höher. Wie elektrisiert starre ich geradeaus auf die große Leinwand, wo die Filmkamera im Extremely Long Shot einen mächtigen Königsadler während seines Fluges hoch oben in den Lüften einfängt. Anschließend wird er im Close-up ganz nah an uns Zuschauer herangeführt. Eine raffinierte Kameraführung, die vor allem bei mir den erwünschten Effekt auslöst. Ich identifiziere mich mit dem Adler, der sich nun auf Augenhöhe befindet. Er ist zum Greifen nah und mein Herz begleitet ihn durch die Lüfte. Es scheint, als öffneten seine weiten Flügel die Enge in meiner Brust. Ich atme. Und da übernehmen meine Augen seinen Blick. Wie er scanne ich die schroffen Felswände eines Bergmassivs ab, auf der Suche nach etwas.
Gänzlich verschmolzen mit dem Adler und den schönen Bildern der Natur, höre ich der Stimme des Filmmoderators zu. Er erzählt von einer indianischen Legende. Seine Worte tänzeln mir ins Ohr. Er sagt, laut der Indigenen gäbe es noch eine Wahl, die Dinge des Lebens zu einem Besseren zu wenden. Der Mensch müsse sich jedoch einer Transformation unterziehen, wie ein Adler in seinem vierzigsten Lebensjahr. Wie tausend kleine Pfeilspitzen trifft mich die Essenz dieser Weisheit mitten in mein weit geöffnetes Herz. Eine leise Stimme in meinem Inneren flüstert mir zu:
„Du bist auch vierzig!“
Augenblicklich erkenne ich, warum ich mich mit dem Adler identifiziert habe. Auch meine Flügel sind schwer geworden. Die Bürde des Inzests hat mein Rückgrat krumm gemacht. Ich kann so nicht weiter machen. Tränen steigen auf, die ich hastig hinterschlucke. Ich möchte unter all diesen fremden Leuten nicht weinen. Auch versuche ich, meinen emotionalen Zustand vor dem Grünauge zu verbergen. Mühsam ringe ich um Selbstbeherrschung - ohne Erfolg.
Der Anblick des Adlers, der inzwischen in einer Felsmulde gelandet ist, sich seine Krallen rausreißt, um sein rituelles Sterben einzuleiten, löst eine innere Druckwelle größten emotionalen Schmerzes aus. Hastig stehe ich vom Sitzplatz auf, renne beinahe in den Waschraum. Ich schaffe es gerade noch rechtzeitig in eine Toilettenkabine, bevor mich ein Tsunami überrollt. Mit dem Klacken des Türriegels bricht der Damm in meinem