Nachdem ich alles aufgestellt habe, setze ich mich auf meinen Stuhl zurück. Ich soll quasi von außen beobachten, welches unbewusste Bild sich über meine Familie im Inneren manifestiert hat.
Nach einer kleinen Weile stellt sich die Therapeutin zu den Resonanzgeber_innen. Sie befragt alle nach ihrem Befinden. So langsam kommt Dynamik ins System. Allerdings tue ich mich schwer, dem Ablauf zu folgen.
„Ich fühle mich ausgegrenzt, irgendwie verloren“, sagt mein Ich-Surrogat.
Der Wahrheitsgehalt ihrer Worte trifft mich mitten ins Herz. Schon steigen Tränen in mir auf, die alles vor meinen Augen verschwimmen lassen. Ich verliere mich im Schmerz und verpasse, was sich innerhalb des Stuhlkreises abspielt. Es betrifft mich und meine Familie. Doch alle Empfindung ist taub geworden. Ich bin dissoziiert. Wie durch Watte höre ich, was gesagt wird. Innerlich versinke ich in den Fluten meiner Tränen. Alles, was meine Familie betrifft, löst dauernd große Traurigkeit aus. Re-Trauma. Gefangen in alten Gefühlsmustern, verpasse ich jenen Moment, in dem sich meine Familie zu einem Abschlussbild umstellt.
Wie aus dem Nichts taucht die Therapeutin vor mir auf.
„Komm. Jetzt bist du dran“, holt sie mich in meine Aufstellung hinein.
Meine Ich-Vertreterin verlässt den Kreis, macht ihre Position für mich frei. Diese befindet sich frontal vor meiner Mutter. Da will ich nicht hin. Ich schaue hilflos zur Therapeutin, die sich sogleich neben mich stellt. Sie legt fest ihren Arm um meine Körpermitte, um mich zu stärken. Trotzdem gelingt es mir nicht, mein Gesicht hochzuhalten. Eine unsichtbare Macht dreht meinen Kopf zur Seite. Mein Blick ist starr auf den Boden gerichtet. Ich bin von Scham überwältigt.
„Bitte schaue deiner Mutter in die Augen“, tönt die rauchige Stimme der Therapeutin sanft an mein Ohr.
Ich versuche es. Aber die unsichtbare Macht ist stärker. Ich bleibe in der gedemütigten Haltung gefangen.
„Ich kann nicht“, jammere ich.
Da setzen heftige Bauchschmerzen ein. Mir bleibt die Luft weg. Meine Knie werden weich. Ich kann mich nur mit großer Mühe aufrechthalten. Am liebsten möchte ich im Erdboden versinken. Im Augenwinkel registriere ich, wie jemand aus dem Stuhlkreis einen Kotzeimer heranträgt. Zur Sicherheit. Genau in diesem Moment spüre ich stärker den Arm der Psychologin. Sie drückt mich ganz fest an sich.
„Bitte sage ihr, dass du es aus Liebe getan hast“, fordert sie nochmal.
Nun schlägt ein Blitz in meinen Schädel ein. Dieser letzte Satz teilt mein Hirn entzwei. Unter mir öffnet sich ein Abgrund. Mein ganzer Körper wird bleischwer. Ich entgleite der schützenden Umarmung und sinke hinab auf den Boden.
Vornübergebeugt, den Fersensitz einnehmend, halte ich mir meinen Bauch, in dem nun ein Orkan tobt. Mir ist schlecht. Ich halte meinen Kopf über den Kotzeimer, da mich nun lang anhaltende Brechreizwellen wie ein Tsunami überrollen. Mein Nervenzell-Netzwerk brennt wie Feuer, wegen dieses letzten Satzes. Es dauert einige Minuten, bis die Naturgewalten in mir abebben. Indes wartet die Psychologin geduldig auf mich. Sie reicht mir ihre Hand, um mich in den Stand zu ziehen. Sofort legt sie wieder ihren Arm um meine Hüfte, bleibt bei mir. Es ist noch nicht ausgestanden.
„Bitte schaue deine Mutter an und sage ihr, dass du es aus Liebe getan hast. “
Ich werde es sagen. Alles das muss endlich ein Ende haben. Ich hole tief Luft und atme durch. Tapfer schaue ich der Resonanzgeberin meiner Mutter in die Augen.
„Liebe Mutter, ich habe es für dich getan. Ich habe es gerne für dich getan“, presse ich es unter hohem Druck aus mir heraus.
Geschafft! Jetzt ist es raus. Ich opferte mich aus Liebe. Ich war keine Sünderin. Es war nicht meine Schuld. Ich war niemals böse. Meine Motivation war Liebe.
Zurück zu Hause in meinem kleinen Atelier tanzt mein Künstler-Ich wieder im Fluss der Farben. Es drängt mich, die Missbrauchsenergie wie in einem alchimistischen Prozess zu transformieren. Ich will es loswerden, diese falsche Identifikation mit dem Inzest, die meine Mutter noch verstärkt hat. Und schon sprudeln zwei Seelen-Collagen aus mir heraus - The Rape und The Torture. Ich male wie in Trance, bin unbekleidet, die Sinne erweitert durch feinsten Weihrauchduft und meiner Lieblingsmusik Buddha Bar. Intuitiv reite ich auf ihren Klangwellen ins Unbewusste, lege ich Schicht um Schicht das kindliche Trauma frei. Welche Folgen es für mich hatte, zeigt sich im Seelenbild Leaving the Body. Seelenflucht war meine ohnmächtige Reaktion auf die Straftaten meiner Eltern.
Und dann kommt noch etwas aus den Tiefen meines Seins empor. Ich merke es an meinen Atem, der viel schwerer geworden ist. Das passiert in letzter Zeit oft, immer wenn ich kurz vor einem tiefgreifenden Heilprozess stehe. Ich atme also ganz langsam in den Bauch hinein, da bricht ein Klagelied von der Buddha Bar CD die Mauer, die ich in meinem Herzen aufbauen musste, um mich vor dem Psychoterror meiner Mutter zu schützen. Die Tränen fließen, so auch die Farben. Ich begebe mich in den Flow meiner Gefühle und damit auch in die Hände meines Künstler-Ich. Flink drapiert es ein aufgeweichtes Stück Zeitungspapier in die Mitte eines großen Zeichenblatts. Danach packt es den Pinsel und malt die ganze Fläche mit violetter Acrylfarbe aus. Dass diese Farbe eine pychologische Bedeutung hat, lerne ich erst viel später, nach dem Prozess.
(24) „Violett auf der Seelenebene zeigt eine tiefe Verbindung mit dem Geist an.“
Und dann geht alles ganz schnell. Wieder fühle ich mich von unsichtbaren Fäden gezogen. Ich schnappe mir einen großen Rundpinsel, tunke ihn in schwarze Acrylfarbe, die von ganz allein, ohne mein Zutun wie es scheint, eine bestimmte Form auf dem violetten Maluntergrund annimmt. Es zeigt sich der Dämon aus meiner Kindheit in seiner ganzen Kraft. Jener Schmerz, der mich mein Leben lang unbarmherzig gefangen hielt. Er gestaltet sich in der Bildmetapher einer schwarzen Tarantel. Ein achtbeiniges Riesenmonster. Eine Schwarze Witwe. Ein Symbol für die zerstörerische Kraft des Mütterlichen sowie für Schädigungen des autonomen Nervensystems.
Mein ganzes Leben fühlte ich mich im Netz der Spinne gefangen, wie eine Fliege. Eingehüllt in ihren Speisekokon war ich ihrem Hunger nach meinen Lebenssäften ausgeliefert. Ich hatte die Qual der Wahl: Zu sterben oder ein Leben lang im Netz einer gefräßigen Schwarzen Witwe gefangen zu sein. Arachnophobie. Seit ich denken kann, löst der Anblick von Spinnen in meinem vegetativen Nervensystem schmerzhafte Stromschläge aus. Ich bin dabei jedes Mal paralysiert. So auch während meines Malprozesses.
(25) „Eine Spinne im Traum und auch das Spinnennetz sind meist Gefahrensignale. Diese Bedeutung geht aus der Art der Nahrungssuche der Spinne hervor. Für die Insekten, die in ihr Netz geraten, ist sie tödlich. (…) In jedem Fall sind Störungen des autonomen Nervensystems zu erwarten. “
Bereits in frühen Kindheitstagen verfolgte mich die Angst vor Spinnen. Und das nicht nur im Traum. Wann immer das achtbeinige Monster in mein Gesichtsfeld trat, stockte es mir den Atem, geriet ich in einen Freeze-Zustand. Dabei spielte es für mich keine Rolle, ob sie leibhaftig war oder nur ein Foto in einem Magazin. Mein limbisches System konnte diesen Unterschied nicht ausmachen. Es löste Alarm aus.
Auch jetzt beim Anblick meines eigenen Kunstwerkes fühle ich mich noch einmal wie der Embryo im Bauch meiner Mutter – in Todesgefahr. Für einen kurzen Moment verschlägt mir die riesige schwarze Acrylspinne den Atem. Ich bin sprachlos.
Dann fühle ich, wie sich etwas in den Untiefen meines Nabel-Zentrums regt.
So als würde mein Odem sich darin in einer Endlosspirale zurückziehen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis er zurückkehrt. Ich spüre bereits den Druck aufsteigen, da bemale ich meine Körpervorderseite flink mit weißer Acrylfarbe. Ich bereite mich vor, ein lebendiger Farbpinsel zu sein.
Und kaum bin ich fertig, entlädt sich der aufgestaute Druck