Natürlich hört sich Mikrobiomforschung sehr viel interessanter an als Darmfloraforschung. Aber es ist auch schlichtweg falsch, »Bakterien« und »Flora«, also Pflanzen (Flora = Pflanzenreich!), in einen Topf zu werfen. Denn mittlerweile gilt es als unbestritten, dass Bakterien eine ganz eigene Lebensform bilden.
Und noch auf etwas anderes müssen wir, die Autoren, in diesem Zusammenhang hinweisen: Eigentlich ist der Begriff »Mikrobiom« der Gesamtheit aller uns (und andere Lebewesen) besiedelnden Mikroben vorbehalten. Es wäre also wissenschaftlich korrekter, wenn wir in diesem Buch konsequent von »Darmmi-krobiom«, »intestinalem Mikrobiom«, »Darmmikrobiota« oder auch von »gastrointestinaler Mikrobiota« sprechen würden. So wie auch – je nach Wohnstätte der Winzlinge – die Bezeichnungen »Hautmikrobiom« oder »Lungenmikrobiom« exakter wären.
Sei‘s drum: Im Augenblick sind es vor allem der Darm und seine Mikrobenansammlung, die im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses stehen. Und das Interesse ist weiterhin ungebrochen: Mikrobiomforscher auf der ganzen Welt wetteifern darum, Puz-zlesteinchen für Puzzlesteinchen aufzudecken und diese dann so zusammenzufügen, dass sich ein schlüssiges Bild von all den Tätigkeiten der verschiedenen Akteure des mikrobiellen Lebens im Darm ergibt und davon, wie genau diese Mega-WG mit anderen Einheiten in unserem Körper funktioniert: mit dem Darm selbst und überhaupt mit dem gesamten Verdauungsapparat, aber auch mit dem Immunsystem oder dem Gehirn. Und weil viele von ihnen salopp von »Mikrobiom« sprechen, wenn sie eigentlich die Gemeinschaft der Darmbakterien meinen, schließen wir uns dieser Gepflogenheit der Einfachheit halber gern an.
BEGRIFFSWIRRWARR
Manche Wissenschaftler wehren sich dagegen, »Mikrobiom« und »Mikrobiota« synonym zu verwenden. Sie wollen die Begriffe so verstanden wissen:
Von der »menschlichen Mikrobiota« sprechen sie, wenn sie die Gesamtheit der uns besiedelnden Mikroorganismen meinen.
Beim »menschlichen Mikrobiom« geht es um die Gesamtheit aller Gene der uns besiedelnden Mikroorganismen.
Es halten sich jedoch nicht alle daran – auch nicht die Forscher-gemeinde selbst.
Bakterien – so klein und doch so groß
»Ohne Bakterien hätten wir einen toten Planeten«, sagt Jack Gilbert. Der britische Mikrobiologe muss es wissen. 2010, als er noch Leiter des Microbiome Center an der University of Chicago war, hat Gilbert gemeinsam mit seinen amerikanischen Kollegen Rob Knight von der University of California in San Diego, Janet Jansson vom Pacific Northwest National Laboratory in Richland und Rick Stevens von der University of Chicago das ehrgeizige Earth Microbiome Project (EMP) auf den Weg gebracht. Das Ziel: möglichst alle Mikroben – und insbesondere die Bakterien – auf unserem Planeten zu erfassen. Inzwischen ist das Werk weitgehend vollbracht: Es gibt die erste Referenzdatenbank mit fast allen Bakterien unserer Erde. Dafür wurden zigtausend Mikroben im Boden, im Meer und in Seen, aber auch in Stuhl- und Hautproben von Mensch und Tier aufgespürt und dann mithilfe von DNA-Analysen katalogisiert.
Das Mammutunternehmen hat schon allein deshalb besondere Beachtung verdient, weil die wissenschaftliche Community mit großem Engagement über alle Grenzen hinweg zusammengearbeitet hat; mehr als 500 Forscher haben sich beteiligt. Und auch wenn es noch Jahre dauern wird, aus den unendlich vielen Geninformationen wiederkehrende Muster und Zusammenhänge zu erkennen, so hat sich schon jetzt bestätigt: Die Artenvielfalt der Bakterienwelt ist noch viel gewaltiger als angenommen. Mehr als 100 000 Arten sind es mindestens. Und die eine oder andere Spezies hat es wohl immer schon gegeben.
An Widerstandsfähigkeit nicht zu überbieten
Man kann sagen: Die Existenz von Bakterien ist die wohl größte Erfolgsstory auf Erden. Seit mindestens 500 Millionen Jahren lassen sie sich durch nichts und niemanden unterkriegen (manche datieren den Beginn der Bakterienära auch auf die Zeit vor etwa 3,8 Milliarden Jahren, als die Erde selbst noch keine Milliarde Jahre alt war). Ein Grund ist, dass Bakterien unfassbar widerstandsfähig sind – egal, ob sie in der Luft, im Wasser, im Boden oder in unserem Darm leben. Es gibt für sie nur wenige Gefährdungen. Eine davon ist das Antibiotikum. Für uns Menschen war es fast 100 Jahre lang die schärfste Waffe im Kampf gegen schwere Infektionskrankheiten – verursacht durch heimtückische Bakterien wie Streptokokken, Meningokokken, Pneumokokken, Listerien oder Legionellen. Leider wird die Waffe immer stumpfer, weil immer mehr Bakterien den Antibiotika zu trotzen wissen und überleben. Das Problem ist so besorgniserregend, dass wir später noch einmal ausführlicher darauf zurückkommen werden.
Die abgebildeten Bakterienstämme gehören zu den häufigeren Bewohnern in unserem Dickdarm.
Ein Völkchen für sich …
So ähnlich sich Bakterien in vielerlei Hinsicht sind – der Spruch »Kennst du eines, kennst du alle« trifft trotzdem nicht auf sie zu. Denn Bakterien sind ein sehr heterogenes Völkchen. Das zeigt sich schon in ihrem Aussehen: Es gibt runde, stäbchenförmige oder geschraubte, und manch eine Bakterienart ist noch etwas winziger als die andere. Einige benötigen wie wir Menschen Sauerstoff, um Energie herzustellen, das sind die Aerobier. Die Anaerobier fühlen sich dagegen in einer Umgebung ohne Sauerstoff am wohlsten. Und wieder anderen ist es völlig egal, ob sie mit oder ohne Sauerstoff leben; sie werden deshalb fakultative Anaerobier genannt. Allen Bakterien gemeinsam ist jedoch, dass sie zu den effizientesten Selbstversorgern gehören, die es gibt: In ihrer Zelle – sie haben nur diese eine – stellen sie alles her, was sie zum Leben brauchen, und verwerten es dann mit ihrem eigenen Stoffwechsel. Ihr Erbgut liegt frei im Zellsaft; einen Zellkern brauchen sie dafür nicht. Und ihren Fortbestand sichern sie, indem sie ihre Zelle sich selbst teilen lassen.
Von all dem ahnte der niederländische Hobby-Naturforscher Antonie van Leeuwenhoek (1632–1723) noch nichts, als ihm 1683 ein erster Blick in die bis dahin unbekannte Welt der Mikroorganismen gelang: Als er gebannt durch sein selbst gebautes Mikro-skop schaute, entdeckte er im Abstrich seines Zahnbelags winzige Lebewesen. Weil sie sich so hübsch bewegten, gab er ihnen den anmutigen Namen »animacula«, was so viel bedeutet wie »lebende Tierchen«.
… mit eigenem Forschungsgebiet
200 Jahre später sprach man nicht mehr von »animacula«, sondern von »Bakterien«, abgeleitet vom altgriechischen »bacterion«, was »Stäbchen« bedeutet. Inzwischen standen den Forschern sehr viel bessere Mikroskope und vor allem ganz neue Methoden wie verschiedene Färbetechniken, feste, transparente Kulturschalen mit den unterschiedlichsten Kulturmedien und Brutschränke zum Anzüchten von Bakterien zur Verfügung. Mit diesen Errungenschaften ließ sich jetzt präzise Typus von Typus unterscheiden: die Tuberkel- von den Diphtheriebazillen, die Typhus- von den Choleraerregern, die Staphylokokken von den Streptokokken und, und, und. Die Gründerväter der modernen Bakteriologie – allen voran der französische Chemiker Louis Pasteur (1822–1895) und der deutsche Arzt Robert Koch (1822–1910) – ließen es jedoch nicht beim Mikrobenkino bewenden. Ihnen ging es um zweierlei: zum einen um den definitiven Beweis, dass Bakterien Krankheiten verursachen, und zum anderen darum, Mittel und Wege zu finden, wie sie den Mikroorganismen so zu Leibe rücken konnten, dass sie für die Menschen nicht länger gefährlich waren.
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