Fest steht jedoch: Wer wie wir in einem Industriestaat lebt, muss sich besonders gut um das heterogene Völkchen in seinem Darm kümmern. Denn unsere typisch westliche Lebens- und Ernährungsweise schadet dem Darmmikrobiom – das ist inzwischen wissenschaftlich belegt.
Was Sie tun können, um Ihre Darmbakterien zu stärken und zu schützen, erfahren Sie im letzten Kapitel dieses Buches. Etwas mehr Fürsorge für die Winzlinge lohnt sich – wir hoffen, Ihnen das mit diesem Buch deutlich zu machen. Ist Ihr Darmmikrobiom nämlich mit Ihnen im Einklang, ergibt sich jener Zustand, den wir Gesundheit nennen.
Wir wünschen Ihnen viel Freude beim Lesen!
Nicole Schaenzler Florian Beigel
Der Mensch und sein Mikrobiom: Die perfekte Symbiose
Der Mensch ist ein Individuum. Oder doch nicht? Fakt ist: Wir werden besiedelt. Unsere Mitbewohner sind jedoch so winzig, dass sie nur mit dem Mikroskop zu erkennen sind. Sie tummeln sich auf uns und in uns und pflegen rege symbiotische Beziehungen – nicht nur untereinander, sondern auch mit uns, ihrem Wirt und Lebensraum. Das heißt, wir sind alle aufeinander angewiesen. Für die moderne Mikrobiologie sind wir deshalb ein Meta-organismus, ein wandelndes Universum im Universum.
DAS UNIVERSUM IM UNIVERSUM
Auf jedem Quadratmillimeter der Haut und der Schleimhaut in Mund, Vagina und noch tiefer in uns drinnen, in Lunge oder Darm – überall wuseln Mikroben, allen voran Bakterien, aber auch Viren, Pilze und Archaeen, die auch »Urbakterien« genannt werden, weil sie den Bakterien ähnlich sind. Je nachdem, wo die Mikroben angesiedelt sind, bilden sie ihr eigenes Völkchen. Die Gemeinschaft im Mund ist also eine andere als die in der Achselhöhle, in der Nase oder im Magen.
Wie eklig, werden Sie jetzt vielleicht denken. Aber nein! Unser Mikrobenreich ist existenziell wichtig für uns und unser Überleben! Diese Erkenntnis ist erst wenige Jahre alt. Und sie hat die medizinische Fachwelt schier überwältigt.
SIND WIR ALLE HOLOBIONTEN?
Seitdem fest steht, dass wir Menschen – ebenso wie Tiere, Pflanzen und überhaupt alle Mehrzeller – mit unserer Mikroben-Gemeinschaft eine Einheit bilden, wird darüber diskutiert, was man künftig anstelle von »Individuum« sagen könnte. Die größten Chancen, sich durchzusetzen, scheint der Begriff »Holobiont« zu haben. Geprägt wurde er 1991 von der amerikanischen Biologin Lynn Margulis (1938–2011), die sich für ihre Neuschöpfung vom griechischen hólos (= ganz, vollständig) und bios (= Leben) inspirieren ließ.
Überraschend ist es schon, dass wir erst jetzt davon erfahren. Wir wissen fast alles über die Erde und kennen so gut wie jedes ihrer Ökosysteme; wir haben den Mond besucht und den Mars besuchen lassen, wir versuchen seit Jahren herauszufinden, ob es auch auf anderen Planeten Leben gibt … Aber dass wir selbst optimale Lebensbedingungen für eine Vielzahl an winzigen Organismen bieten, haben wir übersehen. Jetzt jedoch bemühen sich Wissenschaftler auf der ganzen Welt fieberhaft, das Versäumte nachzuholen und die Wissenslücke zu schließen.
Das körpereigene Ökosystem – ein Mikrobenreich
Es gibt im Moment fast nichts, was unserer mikrobiellen Gemeinschaft nicht an Superlativen zugetraut wird. So hieß es zum Beispiel eine Zeit lang, dass mehr als 100 Billionen Mikroorganismen rund 30 Billionen Körperzellen gegenüberstehen. Die Zahlen gehen vermutlich auf eine Schätzung des Mikrobiologen Thomas Luckey in den 1970er-Jahren zurück; der Amerikaner ging sogar davon aus, dass es zehnmal mehr Mikroorganismen gibt als eigene Körperzellen. Inzwischen weiß man, dass das Verhältnis deutlich weniger spektakulär ausfällt, ja sogar mit 30 Billionen weitgehend ausgeglichen ist, wie die 2016 publizierte Neuberechnung einer israelisch-kanadischen Forschergruppe nahelegt.
Imposant ist die Anzahl der von uns beherbergten Einzeller allemal, wobei längst noch nicht alle identifiziert sind. Aber es wird fieberhaft daran gearbeitet. Vor allem in den Labors der forschenden Biologen (Mikrobiologen, Molekularbiologen, Evolutionsbiologen …) und Mediziner (Immunologen, Gastroenterologen, Neurogastroenterologen …) ist gerade Gewaltiges im Gange. Und wirklich finden die Wissenschaftler fast jeden Tag neue Hinweise darauf, dass ein gutes Einvernehmen zwischen uns und unseren winzigen Mitbewohnern jenen Zustand ergibt, den wir Gesundheit nennen und der langes Leben verheißt.
Wofür sind die Mikroben wichtig?
Wie lebt es sich denn mit der Mikrobenschar? Tja, wie wohl? Vermutlich wissen Sie es nicht. Was unsere Mitbewohner genau für uns tun – und wie sie es tun –, bekommen wir eigentlich nicht mit. Eigentlich. In Wahrheit ist es nämlich so: Es gibt praktisch keinen Prozess in unserem Organismus, an dem die Winzlinge nicht in irgendeiner Form beteiligt sind. Es spricht sogar vieles dafür, dass sie nicht nur unseren Körper, sondern auch unser Seelenheil beeinflussen – zumindest die mikrobielle Gemeinschaft, die sich in unserem Darm tummelt. Vielleicht ist es ja, wie manche Wissenschaftler meinen, angemessen, von den Kleinst-lebewesen in und auf unserem Körper als einem Organ zu sprechen, das wie Herz oder Leber lebenswichtige Aufgaben erfüllt – und ohne das wir keine Minute lang lebensfähig wären.
Man muss allerdings sagen: Das Ganze steckt noch in den Kinderschuhen. Es ist ja auch kaum länger als ein Jahrzehnt her, dass mithilfe neu entwickelter Analysemethoden erste Details über unsere Mitbewohner bekannt wurden – und so fast nebenbei der Weg für eine ganz neue Forschungsrichtung geebnet wurde. Das ist für den eher behäbigen Wissenschaftsbetrieb ein extrem kurzer Zeitraum. Und dies erklärt, weshalb vieles noch im Dunkeln oder zumindest im Halbdunkeln liegt – bis hin zu Antworten auf Grundsatzfragen wie: Sind all unsere wuselnden Untermieter gleichermaßen wichtig für uns? Wer von ihnen hält uns gesund, wer macht uns krank? Wie kommen wir überhaupt zu unseren Mikroben? Und vor allem: Lässt sich die Zusammensetzung der Mikrobengemeinschaft von außen – und wenn ja, wie genau – zu unseren Gunsten beeinflussen?
Hauptwohnsitz Darm
Manches musste bereits widerrufen oder zumindest korrigiert werden. Anderes wie besagte Idee, dass wir mehr Mikroben beherbergen als Körperzellen, hält sich dagegen trotz des überzeugenden Widerspruchs weiterhin hartnäckig. Als sicher gilt jedoch: Die Besiedlung ist nicht überall gleich dicht.
Der mit Abstand größte Teil unserer mikrobiellen Mitbewohner sitzt im Darm – der Zahnbelag oder die Vaginalschleimhaut hinken deutlich hinterher. Und: Mehr als 90 Prozent davon sind Bakterien. Hier schon mal eine Kostprobe von den teilweise beachtlichen Größenordnungen, von denen in diesem Buch noch des Öfteren die Rede sein wird: Bis zu einer Billion Bakterien scheiden wir mit dem Stuhl aus – pro Gramm! Das ist um ein Vielfaches mehr, als Menschen auf unserem Planeten leben oder als die Milchstraße Sterne hat. Sehr wahrscheinlich teilen sie sich in mindestens 1 400 verschiedene Arten auf – das letzte Wort ist darüber aber noch nicht gesprochen. Dass die winzigen Wesen im Darm zusammen zwei Kilo wiegen, wie oft zu lesen ist, stimmt jedoch nicht ganz: Mittlerweile musste das Gewicht um etwa 500 Gramm nach unten korrigiert werden, manche Wissenschaftler sprechen auch »nur« noch von einem Kilo. Macht nichts. Viel wichtiger ist, dass die Wissenschaftler den Darmbakterien eine herausragende Rolle in der Medizin der Zukunft zutrauen – sei es, um uns gesund zu erhalten, sei es, um uns wieder gesund zu machen.
Warum aus Darmflora Darmmikrobiom wurde
Inzwischen hat sich die Fachwelt auf eine Änderung der Begrifflichkeiten geeinigt. So spricht heute kaum noch jemand von Darmflora, sondern nun heißt es immer häufiger Mikrobiom