Die Ermittlungsakte S 6744013, Altmann, Irene, wurde am 27. Februar 2014 geschlossen. Für Jankowski war es Weiberfastnacht oder Wiewerfastelovend; an Karneval pflegte er gerne seine rheinischen Wurzeln, die die Kollegen ihm aber nicht so ohne weiteres abnehmen wollten. Sie vermuteten, dass er sich lediglich einen Anlass zunutze machte, um seine chronische Feierlaune zu bedienen. Jedenfalls ein Tag, an dem alles egal und erlaubt war. „Es gibt sonst kein Wort in keiner Sprache in keinem Land, in dem wie und wer steckt, Ende und Liebe und schnell und immer“! Damit konnte er zwar nur noch diejenigen verblüffen, die entweder neu in seiner Umgebung waren oder bereits an fortgeschrittener Demenz litten. Die anderen unterstellten ihm selbst gerne dasselbe, packte er doch trotz der anfangs noch wohlgemeinten Hinweise auf den falschen Buchstaben immer noch „ever“ mit in das Zauberwort, das längst nicht alle im Sauerland kennen, geschweige denn richtig aussprechen können.
Für Stojan war es allerdings ein eher trauriger und besinnlicher Tag gewesen. Wenige Wochen später war er aus dem Dienst ausgeschieden, fast ein halbes Jahr früher als geplant, aber mit angesparten Urlaubswochen und krankheitsbedingten Arbeitszeitverkürzungen hatte man ihm das so vorgeschlagen und er hatte weder Lust noch Kraft verspürt, anderer Meinung zu sein. Und derjenige, dem er zuhause das Sagen und Meinen überließ, und zwar gerne, war schon der damals drei Monate alte Boxerrüde, der ihm auch in der ersten Phase seines Ruhestands Langeweile und Larmoyanz rasch ausgetrieben hatte. Fido war kein großer Schmuser, gelegentliches Tätscheln seiner Flanke oder Streichen über den Rücken musste reichen und wurde dann aber auch schnell und unmissverständlich als lästig nach oben gemeldet. Da auch Stojans Bedarf an zärtlichem Austausch schon immer sehr überschaubar geblieben war, beschränkte sich die Nähe zwischen Herrn und Hund meistens darauf, dass man sich nebeneinandersetzte, sei es zum gemeinsamen Zeitunglesen, Musikhören oder kleinen Imbiss zwischendurch. Da kam es dann auch schon mal vor, dass die klebrig pelzige Hundezunge hinter und über Herrchens Ohr fuhr. Ein versteckter Beobachter hätte ohne allzu großes Risiko einiges darauf setzen können, dass Mensch und Tier diese Szene genossen. Jeweils ohne es sich anmerken zu lassen, versteht sich. Und Fido sorgte dafür, dass im Hause Stojan mindestens zweimal täglich Speisen auf den Tisch und in den Napf kamen, fast nie länger als zwei Stunden am Stück gelesen oder am Schreibtisch gesessen wurde und ein ausgeklügeltes Fitness-Programm für Jungsenioren von Anfang bis Mitte sechzig mit regelmäßigen Streifzügen durch die umliegenden Wälder und Raufen, Kämpfen und Nachlaufen in dem verwilderten Garten die Balance zwischen Körper und Geist garantierte.
Altmann, Irene. Stojans Gefühl wurde stärker. Und so etwas hatte er in Ermittlungen nur zugelassen, wenn es auch Fakten gab, irgendetwas Logisches. Noch war es keine Kopfsache.
Irina Altmann war am 28.11.1992 in Kasachstan geboren, das sich gerade von Russland gelöst hatte. Ihre Eltern, Ernst und Agnes Altmann, gehörten der russischdeutschen Minderheit in Astana an und siedelten 1994 mit der kleinen Irina nach Deutschland aus. Nach etlichen Sprach- und Integrationskursen fand der Vater als gelernter Schreiner eine Anstellung in einem Sägewerk in Schmallenberg und die Mutter, eine ausgebildete Krankenschwester, einen unregelmäßigen und schlecht bezahlten Job in einem ambulanten Pflegedienst als Springerin für erkrankte oder schwangere Altenpflegerinnen. Aus Irina wurde Irene. Daten und Kommentare aus der Akte und eigene zunächst vage, dann deutlichere Erinnerungen formten vor Stojans geistigem Auge das Bild des Mädchens.
Bis auf die ersten Lebensjahre, in denen zuhause noch Russisch gesprochen wurde, war Irene über Kita, Grund- und dann Realschule vollständig in der neuen Umgebung sozialisiert worden, die Eltern hatten sich frühzeitig um Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung gekümmert und weder heimatliche Traditionen noch vornehmlichen Umgang mit ehemaligen Landsleuten gepflegt. Die zunächst noch jährlichen Verwandtschaftsbesuche in Kasachstan waren nach dem Tod von Irenes Großmutter seltener geworden, der letzte hatte 2009 das Begräbnis des Großvaters zum Anlass. Samstags wurde Lotto in einer Tippgemeinschaft gespielt, sonntags aßen sie bei Pepe Pizza funghi oder Lasagne. Die Termine des örtlichen Schützenvereins waren ihnen mindestens so heilig wie den Alteingesessenen. Sie sprachen langsames Deutsch mit wenigen grammatikalischen Fehlern. Ernst machte kaum welche und war stolz darauf, korrigierte Agnes dann manchmal gerne. Im Gespräch verriet nur sein wohl unauslöschlicher harter Akzent seine Herkunft, aufmerksamen Mitbürgern mögen auch die alten, nicht mehr generationstypischen deutschen Vornamen und der in Westfalen eher unübliche Gesichtsbau, nämlich kantiger, nicht so fleischig, aufgefallen sein. Irene lief überall gut mit, ein waches, aber nicht schnelles Kind, sie wiederholte die siebte Klasse und verließ die Schule nach der zehnten Klasse mit Fachoberschulreife. Danach schrieb sie Bewerbungen und sammelte Ablehnungen, konnte sich für nichts richtig begeistern, jobbte ein bisschen hier und da und bei Pepe, was den Eltern überhaupt nicht gefiel, zumal sie nicht wussten, warum Irenchen so viel Trinkgeld bekam, für das sie sich dann noch schludrigere Kleidung kaufte als sie sowieso schon trug, wenn sie das kleine elterliche Reihenhaus am Ortsrand verließ, um sich mit ihrer Clique zu treffen.
Stojan las weiter. Er war froh, dass sich jemand Mühe gegeben hatte mit der Biografie der jungen Frau. Sie endete mit dem Beginn der Ausbildung zur Medizinischen Fachangestellten in einer Schmallenberger Augenarztpraxis im August 2010. Aussagen von Zugpersonal und Mitreisenden folgten, ein kopierter Fahrplan, handschriftlich ergänzte Kommentare, Frage- und Ausrufezeichen. Stojan fand Papier, einen Bleistift und versuchte zu ordnen.
Am Dienstag, den 19.2.2013 musste sie irgendwo zwischen Leipzig und Hamm in den Zug Richtung Dortmund eingestiegen sein, irgendwann zwischen sechs Uhr und zehn Uhr siebenunddreißig. Aber wo und wann Irene tatsächlich den Zug bestiegen hatte, war nicht ermittelt worden. Kein Mensch in ihrer Umgebung schien auch nur die leiseste Ahnung zu haben, was sie in dem Zug wollte. Laut Fahrplan sollte der Zug acht Minuten vor elf Uhr in Hamm halten, wenige Minuten vorher hatte sich ein Rollstuhlfahrer darüber beschwert, dass die Tür zur Behindertentoilette versperrt sei, ohne dass das Besetztzeichen leuchtete. Einem Zugbegleiter, der gerade zugestiegen war, gelang es, die breite Tür zur Behindertentoilette aufzudrücken. Zunächst sah es so aus, als sei die junge Frau ohnmächtig zusammengebrochen und habe mit ihrem Körper die nach innen zu öffnende und nicht verschlossene Tür blockiert. Sofort wurde nach einem Arzt über den Lautsprecher im Zug und an den Bahnsteigen ausgerufen, gleichzeitig der Notruf betätigt. Der Zugbegleiter und ein junger Mann leisteten erste Hilfe, offenbar fachkundig und ohne Hektik, wie man später vernehmen konnte. Bereits sechs Minuten nach dem abgesetzten Notruf war der Notarzt im Zug und begann mit der Reanimation, die dann während des Transports auf einer Liege und schließlich im Rettungswagen fortgesetzt wurde, letztendlich ohne Erfolg. Das Bewusstsein hatte Irene nicht mehr wiedererlangt. Eine Fahrscheinkontrolle sei zwischen Erfurt und Gotha und eine weitere zwischen Kassel und Altenbeken erfolgt, die Sitzplätze der elf Waggons mit sechs Abteilwagen und fünf Großraumwagen seien zu diesem Zeitpunkt, wie der Zugbegleiter sich zu erinnern glaubte, ungefähr zur Hälfte besetzt gewesen. Das sei an einem normalen Werktag zu dieser Tageszeit meistens ähnlich. Ebenfalls glaubte er sich vage zu erinnern, dass die junge