„Keine Sorge, Frau Schelm, wir werden Mia Hollweg fair behandeln.“
Lene schlief nur kurz und schlecht und wäre vor Wut fast geplatzt, als sie ins Büro kam und die Kolleginnen vor dem Radio antraf, wo Meike Stumm ihrer alten Klassenkameradin Karin, heute Redakteurin bei Stadtradio Tellheim, ein Interview gab, in dem Meike Stumm es offenbar darauf anlegte, möglichst viel Porzellan zu zerdeppern oder ihren hagestolzen Großvater Elmar zum Schlaganfall zu treiben.
„Nein, Karin, ich bin nicht entführt worden. Ich bin weggelaufen, weil mein Vater – oder genauer – der Mann, den ich damals für meinen Vater hielt, mich mehrmals vergewaltigt hat. Meine Mutter wollte mir nicht glauben, weil sie mit einem Freund und Geliebten beschäftigt war, von dem ich heute weiß, dass er mein Erzeuger ist. Großvater, den ich auch um Hilfe gebeten habe, hat mir Prügel angedroht, wenn ich weiter so ungeheuerliche Lügen über seinen Sohn verbreiten würde. Ich habe jemanden um Hilfe gebeten, von dem ich nicht wusste, dass er in Geldnöten steckte. Er hat mich in seinem Wochenendhaus verborgen und eine Entführung vorgetäuscht. Die Familie wollte die geforderte Million zahlen und hat einen Geldboten zur Falkenweide geschickt.“
„Moment mal, Meike. Das war doch der Mann, den du damals für deinen Vater gehalten hast?“
„Richtig. Und der bestimmt noch mehr gezahlt hätte, um zu verhindern, dass die Polizei nach den wahren Gründen forschte, warum die Tochter fortgelaufen war.“
Lene gab im Büro Bescheid, dass sie heute Morgen gleich zu einer Recherche losfahre. „Natürlich habe ich mein Handy dabei.“
Markus Demel war noch nicht ins Büro gekommen, hatte aber längst erfahren, dass eine Hauptkommissarin Marlene Schelm, die vor vierzehn Jahren mit einer Sonderkommission vergeblich nach Meike Stumm gesucht hatte, über die Rückkehr der verlorenen Tochter informiert war.
„Was wollen Sie wissen? Wenn Sie nichts dagegen haben, sollten wir uns in den Garten setzen. Das Wetter ist wunderschön und ich muss heute noch einen Haufen reicher, aber bornierter Männer davon überzeugen, mehrere Millionen in ein Projekt zu investieren, das einigen nicht gefällt.“
„Aber Ihnen.“
„Ja, sehr sogar, wenn ich an mein Honorar denke.“
„Kann man uns draußen belauschen?“
„Nein.“
„Ich würde gerne etwas mehr über Ihren Freund Alexander Stumm erfahren.“
„Freund?“ Demel lachte bitter und böse. „Das habe ich auch mal geglaubt. Aber das ist lange her; inzwischen bin ich klüger geworden. Alexander wusste gar nicht, was Freundschaft ist, geschweige denn Liebe. Ich durfte ihn bewundern – ja – auch beneiden. Aber er hat mich ausgenutzt. Denn dazu waren anderen Menschen seiner Meinung nach ja da.“
„Er dachte also genau wie sein Vater.“
„Richtig.“
„Und wie hat seine Schwester Ulrike gedacht?“
„Haben Sie sie denn noch gekannt?“
„Ja.“
„Rike mochte mich, und ich mochte sie. Aber als mein sogenannter Freund Alexander und sein Vater Elmar bemerkten, dass aus dem „Mögen“ mehr zu werden drohte, bekam ich Hausverbot bei den Stumms. Was war ich denn? Ein kleiner Abiturient aus sehr bescheidenen Verhältnissen, der sich abstrampeln musste, seine erst Million zusammenzubringen. So einer war es doch nicht wert, sich Hoffnungen auf eine Ulrike Stumm zu machen.“
„Nicht wert?“
„Ja, so haben sich Vater und Sohn ausgedrückt.“
„Und für diese Kränkung haben Sie sich gerächt?“
„Gerächt? Wie denn. Wann denn?“
„Sie waren Trauzeuge bei Alexander Stumm und Liane Grote.“
„Richtig. Die Kränkung sollte vor meinen Augen quasi amtlich Brief und Siegel erhalten.“
„Sie kannten Liane Grote?“
„Sie müssen anders herum fragen: Welcher junge Mann aus Tellheim kannte Liane Grote, die Miss Leiningen mit der preisgekrönten Figur nicht? Wer hatte den schönen Busen noch nicht gestreichelt?“
„Sie haben kurz vor der Hochzeit mit Liane Grote geschlafen und sie geschwängert, so kurz vor der Hochzeit, dass Meike als Alexanders Kind durchging, also als Kuckuckskind aufwuchs.“
„Woher wollen Sie das wissen? Das ist doch Blödsinn.“
„Von Ulrike Stumm weiß ich das, indirekt. Sie hat in ihrem Testament eine ganz ungewöhnliche Formulierung gewählt. Sie vermache ihr Vermögen der Tochter von Alexander Stumm und Liane Grote, nicht einfach ihrer Nichte Meike. Hatte Rike was bemerkt?“
Demel bohrte mit einem Zeigefinger in seinem Ohr. „Ja. Und sie war wütend, dass ich sie so rasch vergessen konnte und das ausgerechnet mit diesem Flittchen Liane.“
„Hat Alexander Stumm gewusst, dass er nicht der leibliche Vater von Meike ist?“
„Keine Ahnung.“
„Hat Meike etwas gewusst? Ist sie deswegen fortgelaufen?“
„Auch das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass Meike ihre Mutter und mich kurz zuvor hier bei mir im Bett überrascht hat.“
„Schlafen Sie heute noch mit Liane Stumm?“
„Ab und zu, ja. Zwischen ihr und Alexander lief schon seit Jahren nichts mehr.“
„Dann ist Ihre Rache für die Kränkung im Hause Stumm ja zu hundert Prozent gelungen.“
Demel verzog das Gesicht, sagte aber nichts. Es betrübte ihn nicht sehr, dass Lene gleich danach aufbrach.
Sie schaltete, was sie selten tat, auf der Fahrt in den Lendersweg das Autoradio an und hörte so von dem Großbrand in der Kanalstraße, die für den Durchgangsverkehr gesperrt wurde. Alle Bewohner und Besucher des Bienenkorb genannten Bordells hatten rechtzeitig und unverletzt das Gebäude verlassen können.
Im Lendersweg öffnete Meike Stumm die Tür ihres Elternhauses.
„Haben Sie eine Stunde Zeit für mich?“
„Warum? Ist was passiert?“
„Ja und nein, Frau Stumm. Wir müssen nur noch ein paar Lügen und Ausflüchte aus dem Weg räumen.“
„Was soll das heißen?“
Neuntes Kapitel
Marlene Schelm, Karl Dembach und Jürgen Sandig drehten an allen erreichbaren Knöpfen, um Mia Hollweg einen Prozess zu ersparen, nachdem Sylvia Köhler an den Folgen des Bauchschusses gestorben war. Mia verriet bei der internen Untersuchung ihr „Geheimnis“, für das sie sich so lange geschämt hatte: Sie war als Schülerin vergewaltigt worden und in dem dunklen Bauernhof mit den sich nähernden Schritten war die Erinnerung wieder über sie hereingebrochen. Sie schied aus dem Polizeidienst aus, und Ex-Kollege Ingo hielt ihr so lange die Treue, bis sie bereit war, mit ihm zum Standesamt zu gehen. Meike Stumm und Kollege Heilmann trennten sich, was Lene sehr recht war. Markus Demel änderte sein Testament und vermachte sein inzwischen beachtliches Vermögen seiner „leiblichen Tochter“ Meike Stumm. Nachdem eindeutig feststand, dass der Metallkoffer aus Sylvias Auto einmal Alexander Stumm gehört hatte, wurde der Mordfall Alexander Stumm offiziell abgeschlossen. Auf Uwe Sobiok wartete eine Anklage wegen Nötigung, Vortäuschen einer Straftat und Erpressung. Kurt Venna wurde arbeitslos. Den Bienenkorb riss man nach den Brandschäden ab, Erwin Grote verlor viel Geld. Malte