In all den Jahren. Barbara Leciejewski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Barbara Leciejewski
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783862823727
Скачать книгу
Ich war bewundernd. Mehr kann man nicht tun.

      Plötzlich ertönte die Stimme der Cutterin durch den Lautsprecher, der auch in der Kantine zu hören war: „Elsa Frank, bitte ins Studio, Elsa Frank, bitte ins Studio!“

      Das war mein Name, obwohl ich eigentlich noch gar nicht dran war. Vielleicht hatten sie etwas vorgezogen. Was auch immer es war, es rettete mich.

      Mit großem Bedauern verabschiedete ich mich und nahm meine Tasse mit. Als ich beim Studio ankam, war das Erste, was ich sah, ein in Tränen aufgelöstes junges Mädchen, eine der Neuen, die sich zum ersten Mal beim Synchron versucht hatten. Ein anderes saß neben ihr auf dem Sofa und bemühte sich halbherzig, sie zu trösten. Die Türen zur Regie und zum Studio waren geschlossen.

      „Das kann doch jedem mal passieren“, flüsterte die Trösterin nicht sehr überzeugend. „Ist ja auch ein schwieriger Satz.“

      Als ich eintrat und meine Tasche ablegte, warf sie mir einen vorwurfsvollen Blick zu, von dem ich nicht wusste, womit ich ihn verdient hatte.

      Die Tür des Studios ging auf und Regina, die Cutterin, kam heraus.

      „Ah, Elsa, da bist du ja, komm gleich rein.“ Sie streifte das verweinte Häufchen Elend auf dem Sofa mit einem peinlich berührten Blick und verschwand wieder im Studio, laut „Sie ist da“ rufend.

      Ich ging hinter ihr her.

      Als ich einen Blick durch die Scheibe zum Regieraum warf, sah ich dahinter Henning, den Regisseur, mit zerrauften Haaren und offensichtlich zu Tode erschöpft über dem Tisch hängen. Der Tonmeister neben ihm hatte den Blick gesenkt und drehte an ein paar Schaltern. Regina machte mir seltsame Zeichen, denen ich entnehmen konnte, dass die Luft so dick war, dass man sie schneiden konnte. Laut sagte sie: „Du musst bitte einen Extra-Take sprechen. Das hat gerade nicht so ganz geklappt.“ Sie räusperte sich.

      „…ANZ GEKLAPPT?“, schrie Henning, aus seinem Koma erwachend, durchs Mikrofon. Er hatte wohl den Knopf zu spät gedrückt, sodass man nur den letzten Teil hören konnte, doch er wiederholte sich gerne und in gleicher Lautstärke noch einmal.

      „NICHT SO GANZ GEKLAPPT?“

      Ich zuckte unwillkürlich zusammen. Ich hatte schon öfter von Hennings Wutausbrüchen gehört, aber sie noch nie live erlebt. Das hatte was. Kein Wunder, dass das Mädchen sich draußen die Augen ausheulte.

      „Wie oft haben wir den Satz gemacht?“, wollte Henning wissen. „Wie oft?“

      Er wiederholte die Frage mehrmals, mal fand er den Knopf fürs Mikrofon, mal fand er ihn nicht und man sah nur seine Mundbewegungen.

      Er antwortete schließlich selbst: „Dreiundzwanzig Mal! DREIUNDZWANZIG MAL!“

      Zu seinen Wutausbrüchen schien es zu gehören, dass er selbst jeden Satz auch mindestens zweimal wiederholte.

      Ich fragte mich erstens, wieso sie es überhaupt so oft versucht und nicht gleich die Sprecherin ausgetauscht hatten, schließlich gab es an einem Ensembletag genügend Alternativen. Und zweitens fragte ich mich, was das für ein Satz war, denn den musste ich nun sprechen, und ich wagte mir nicht vorzustellen, was passieren würde, wenn er nicht beim ersten Mal saß. Irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, dass ich hier an einem kritischen Punkt in meiner Synchronkarriere angelangt war: entweder ich versagte, und das war’s dann oder … tja, was?

      „Wo sind wir denn?“, fragte ich so sachlich wie möglich Regina.

      Ich war ‚Frau in getupftem Kleid’ und der Satz lautete: ‚Er ist dort hinter dem Kiosk verschwunden.’

      „Aha!“, entfuhr es mir. Was war daran so schwer? Der Tonmeister zeigte mir nun auch den Take: Die Frau stand vor einem Laden und antwortete einem Polizisten, der einen flüchtigen Verbrecher verfolgte. Dabei sagte sie den Satz. Aufgeregt, aber nicht zu schnell. Wichtigtuerisch, aber nicht zu bedeutend. Auf vier, kein Anatmer, keine Pause, einfach durchsprechen.

      „Okay“, sagte ich, atmete ruhig und konzentrierte mich auf den Start. Eins. Zwei. Drei. Bei vier fing ich an zu sprechen und nach fünf Sekunden war alles vorbei.

      „Danke!“, sagte Regina und strahlte mich erleichtert an.

      „Du bist ein Schatz!“, seufzte es glücklich durch das Mikrofon. Eine Kusshand flog mir zu. Der Tonmeister hatte den Blick wieder gehoben und wischte sich mit dem Handrücken grinsend die Stirn ab.

      „Kleine Pause?“, fragte Regina nach hinten und Henning nickte. Er zückte bereits seine Zigarettenschachtel und verschwand.

      Regina nutzte die Gelegenheit, das Fenster im Studio aufzumachen und frische Luft hereinzulassen.

      „Bei dem vielen Angstschweiß kann man gar nicht mehr atmen“, meinte sie und verdrehte die Augen.

      „Was war denn das Problem vorhin?“, fragte ich.

      Sie verdrehte die Augen noch mehr. „Zu schnell, zu hektisch, zu undeutlich und vor allem das Wort ‚Kiosk’“, sagte sie. „Man hat einfach nicht erfahren, wohin der Typ verschwunden ist, du hast keine Ahnung, wie viele Varianten da möglich sind.“

      „Dreiundzwanzig?“, riet ich. Sie nickte.

      „Und Henning wollte es ihr unbedingt beibringen. Wenn er nicht so stur gewesen wäre, aber nein, immer wieder musste sie es versuchen, obwohl sie sich schon in ein Mauseloch verkriechen wollte. Der alte Sadist.“

      „Das hab ich gehört“, ertönte Hennings Stimme über Mikrofon. Blauer Rauch quoll aus seinem Mund und er nahm gleich noch einen tiefen Zug aus der Zigarette.

      „Geschieht dir recht“, gab Regina ungerührt zurück.

      Henning drohte mit dem Finger, wirkte aber wieder ganz entspannt.

      Ich ging in den Aufenthaltsraum zurück, in dem sich inzwischen auch der Läubel wieder eingefunden hatte. Das Mädchen hatte aufgehört zu heulen, saß aber zusammengekauert und mit roten Augen auf dem Sofa. Sie vermied es, mich anzusehen. Ich war die Feindin, die ihre Schmach noch vergrößert hatte. Einen Moment lang fragte ich mich, ob ich aus Solidarität nicht wenigstens ein einziges Mal über den Kiosk hätte stolpern können, doch ich verwarf den Gedanken spätestens als Henning hereinkam, mich beiseite nahm und mir ein Buch in die Hand drückte. Das Synchronbuch für eine romantische Komödie, ein kommender Blockbuster aus Hollywood.

      „Mach dich schon mal mit der Claire vertraut“, raunte er mir zu und zwinkerte kurz, dann wandte er sich an das Unglücksmädel, setzte sich mit Schwung neben sie auf das Sofa und nahm sie in den Arm.

      „Mach dir nichts draus. So haben alle mal angefangen.“ Er drückte sie väterlich an sich und löste damit eine erneute Tränenflut aus.

      Ich schlug das Buch auf und mir fielen fast die Augen aus dem Kopf. Claire kam fast auf jeder Seite vor: die Hauptrolle. Mindestens dreihundert Takes. Ich überschlug schon mal im Kopf, was das bei hundert DM Komm-Gage und sechs Mark pro Take einbringen würde. Um diesen Monat musste ich mir jedenfalls keine Sorgen mehr machen. Großer Gott! Da war man in der Lage, im richtigen Moment einen Satz mit dem Wort ‚Kiosk’ fehlerfrei zu sprechen, und schon drehte sich die Welt auf den Kopf. Hätte es ein Casting für die Rolle gegeben, hätte man mich wahrscheinlich nicht einmal eingeladen.

      Ich bemühte mich, den Rest des Tages so konzentriert zu bleiben, dass ich meinen Karrieresprung nicht doch noch gefährdete, aber zum Glück blieb die größte Herausforderung für mich, in der schlechten Luft im Studio neben rund fünfzehn verschwitzten Leuten nicht ohnmächtig zu werden. Mein letzter Satz an diesem Tag lautete: „Du verdammter Hurensohn!“ Das war’s.

      Ich verabschiedete mich von Henning mit einem Handschlag, von Regina mit zwei Wangenküsschen und sah zu, dass ich schneller aus dem Studio herauskam als der Läubel.

      Was für ein erfolgreicher Tag! Eigentlich sollte man das feiern, dachte ich und ging im Kopf alle Leute durch, die ich dazu einladen konnte. Die Liste war kurz, denn ich hatte in München weder Eltern noch Geschwister. Meine beste Freundin war gerade in Australien und eine zweitbeste Freundin gab