Das Ziel der Philosophie – wie das aller anderen eigentlich geistigen Tätigkeiten, des Studiums im ursprünglichen Sinne des Wortes – ist Erkenntnis. Die Erkenntnis, um die es ihr geht, ist die Art von Erkenntnis, die Einheit und System in die angesammelten Wissenschaften bringt, und die Art, die sich aus einer kritischen Überprüfung der Gründe für unsere Überzeugungen, Vorurteile und Meinungen ergibt.
Es gibt viele Fragen und unter ihnen solche, die für unser geistiges Leben von profundem Interesse sind. Hat die Welt einen einheitlichen Plan oder Zweck, oder besteht sie aus einem zufälligen Zusammenspiel der Atome? Ist das Bewusstsein ein beständiger Teil der Welt, so dass wir noch auf ein unbeschränktes Wachstum hoffen dürfen, oder ist das Bewusstsein ein transistorisches Phänomen auf einem kleinen Planeten, auf dem das Leben nach einiger Zeit unmöglich werden wird? Haben Gut und Böse eine Bedeutung für die ganze Welt oder nur für uns Menschen? – Das sind Fragen, die die Philosophie stellt, und die von verschiedenen Philosophen verschieden beantwortet worden sind.
Man muss zugeben: Viele Philosophen haben gemeint, dass die Philosophie die Wahrheit bestimmter Antworten auf solche fundamentalen Fragen feststellen könne. Doch so gering die Hoffnung, Antworten zu finden, auch sein mag: es bleibt Sache der Philosophie, weiter an diesen Fragen zu arbeiten, uns ihre Bedeutung bewusst zu machen und alle möglichen Zugänge zu erproben. Der Wert der Philosophie darf nämlich nicht von irgendeinem fest umrissenen Wissensstand abhängen – im Gegenteil – ihr Wert besteht gerade wesentlich in der Ungewissheit, die sie mit sich bringt.
Wer niemals eine philosophische Anwandlung gehabt hat, der geht durchs Leben und ist wie in ein Gefängnis eingeschlossen: von den Vorurteilen des gesunden Menschenverstands, von den habituellen Meinungen seines Zeitalters oder seiner Nation und von den Ansichten, die ohne die Mitarbeit oder die Zustimmung der überlegenden Vernunft in ihm gewachsen sind. So ein Mensch neigt dazu, die Welt bestimmt, endlich, selbstverständlich zu finden; die vertrauten Gegenstände stellen keine Fragen, und die ihm unvertrauten Möglichkeiten weist er verachtungsvoll von der Hand. Sobald wir aber anfangen zu philosophieren führen selbst die alltäglichsten Dinge zu Fragen, die man nur sehr unvollständig beantworten kann. Die Philosophie kann uns zwar nicht mit Sicherheit sagen, wie die richtigen Antworten auf die gestellten Fragen heißen, aber sie kann uns viele Möglichkeiten zu bedenken geben, die unser Blickfeld erweitern und uns von der Tyrannei des Gewohnten befreien.
Ihren Wert – vielleicht ihren vornehmsten Wert – gewinnt die Philosophie durch die Größe der Gegenstände, die sie bedenkt, und durch die Befreiung von engen und persönlichen Zwecken, die sich aus dieser Betrachtung ergibt. Wer sich gleichsam von seinen Instinkten treiben lässt, der bleibt in dem engen Kreis seiner privaten Interessen eingeschlossen: Familie und Freunde mögen mit zu diesem Kreis gehören, aber die Außenwelt ist nur das, was die Vorgänge im Kreis der instinktiven Wünsche fördert oder stört. Diese Lebensform mutet irgendwie fiebrig und eingezwängt an, und das philosophische Leben ist im Vergleich dazu ruhig und frei.
Wenn wir es nicht fertig bringen, unserer Interessen zu erweitern, bis sie die ganze Außenwelt umfassen, sind wir in der gleichen Lage wie die Garnison einer belagerten Festung: wir wissen, dass der Feind uns nicht entkommen lassen wird und dass die Kapitulation letzten Endes unvermeidlich ist. Wenn wir so leben, wird es keinen Frieden sondern nur einen endlosen Streit zwischen dem Drängen unserer Begierden und der Machtlosigkeit unseres Willens geben. Und wenn unser Leben groß und frei sein soll, müssen wir diesem Streit und unserer Gefangenschaft in ihm entkommen.
Ein Ausweg ist die philosophische Kontemplation. Der Geist, der sich an die Freiheit und Unparteilichkeit derselben gewöhnt hat, wird sich auch in der Welt des Fühlens und Handelns etwas von dieser Freiheit und Unparteilichkeit erhalten. Er wird seine Ziele und Wünsche als Teile des Ganzen betrachten, und ihre Dringlichkeit wird sich vermindern, weil er sie als unendlich kleine Bruchteile einer Welt sieht, die im Ganzen von den Taten eines einzelnen Menschen unbeeinflusst bleibt. Die Unparteilichkeit, die in der Kontemplation das unvermischte Verlangen nach Wahrheit ist, ist dieselbe Qualität des Geistes, die sich im Handeln als Gerechtigkeit ausdrückt, und im Fühlen als jene umfassende Liebe, die allen gelten kann und nicht nur jenen, die man für nützlich oder für bewunderungswürdig hält. So vergrößert die Kontemplation nicht nur die Gegenstände unseres Denkens, sondern auch die unseres Handelns und unserer Neigungen: sie macht uns zu Bürgern der Welt und nicht nur zu Bewohnern einer ummauerten Stadt, die mit der Welt vor ihren Toren im Kriege liegt. In dieser Weltbürgerschaft besteht die wahre Freiheit des Menschen, seine Befreiung aus der Knechtschaft kleinlicher Hoffnungen und Ängste.
Fassen wir unsere Betrachtungen über den Wert der Philosophie zusammen: man soll sich mit der Philosophie nicht so sehr wegen irgendwelcher bestimmter Antworten auf ihre Fragen beschäftigen – denn in der Regel kann man diese bestimmten Antworten nicht als wahr erkennen. Man soll sich um der Fragen selber willen mit ihr beschäftigen, weil sie unsere Vorstellungen von dem, was möglich ist, verbessern, unsere intellektuelle Phantasie bereichern und die dogmatische Sicherheit vermindern, die den Geist gegen alle Spekulation verschließt. Vor allem aber werden wir durch die Größe der Welt, die die Philosophie betrachtet, selber zu etwas Größerem gemacht und zu jener Einheit mit der Welt fähig, die das größte Gut ist, das man in ihr finden kann.2
2 Der hier vorliegende Text ist eine Zusammenfassung der Gedanken Bertrand Russells, die selbiger in seiner Abhandlung über die ^Probleme der Philosophie‹ anstellte. Vgl.: Russell, Bertrand: Probleme der Philosophie, Suhrkamp, 1967, S. 135-142.
Inhaltsverzeichnis
1 Philosophie – eine erste Begegnung |
1.1 Logik – eine erste Begegnung |
1.2 Erkenntnistheorie – eine erste Begegnung |
1.3 Metaphysik – eine erste Begegnung |
1.4 Ethik – eine erste Begegnung |
1.5 Spezielle Disziplinen der Philosophie |
1.6 Unterscheidungen philosophischer Strömungen |
2 Philosophiegeschichte – eine Zeittafel des dokumentierten Nachdenkens |
2.1 Philosophie der Antike |
2.2 Philosophie des Mittelalters |
2.3 Philosophie der Renaissance: Renaissance-Humanismus |
2.4 Philosophie der Neuzeit im 17. und 18. Jahrhundert |
2.5 Philosophie des 19. Jahrhunderts |
2.6 Philosophie des 20. Jahrhunderts |
2.7 Philosophie der Gegenwart |
3 Grundlagen der philosophischen Logik |
3.1 Allgemeine Namen- und Satzlehre |
3.1.1 Wichtige Arten von Namen und logischen Zeichen |
3.1.2 Wichtige Arten von Aussagesätzen |
3.1.2.1 Singuläre Aussagesätze |
3.1.2.2 Generelle Aussagesätze |
3.1.2.3 Quasi-Generelle Aussagesätze |
3.1.3 Wichtige Arten wahrer bzw. falscher Aussagesätze |
3.1.3.1 Faktisch wahre und faktisch falsche Aussagesätze |
3.1.3.2 Logisch wahre und logisch falsche Aussagesätze |
3.1.3.3 Analytisch wahre und analytisch falsche Aussagesätze |
3.1.4 Wichtige logische Beziehungen zwischen Aussagesätzen |
3.1.5 Wichtige Arten von Widersprüchen |
3.2 Klassische Logik |
3.2.1 Was verstehen wir unter dem Ausdruck ›Argument‹? |
3.2.2 Was heißt es, dass ein Argument gültig ist? |
3.2.3 Inhalt oder Form? |
3.2.4 Aussagenlogik |
3.2.4.1 Besonderheiten der Aussagenlogik |
3.2.4.2 Die Wahrheitstafelmethode – ein Beweisverfahren der Aussagenlogik |
3.2.5 Prädikatenlogik (eine Skizze) |
3.3 Die Entwicklungsgeschichte der Logik |
3.3.1 Die Beiträge zur Logik von Aristoteles bis Newton |
3.3.2 Die Beiträge zur Logik von Gottfried Wilhelm Leibniz |
3.3.3 Die Beiträge zur Logik von Georg Booles bis Charles Sanders Peirce |
3.3.4 Die Beiträge zur Logik von Gottlob Frege |
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