Ein Schimmer des Begreifens huschte über sein Gesicht. Da kamen Big Jim und seine Sattelwölfe. Und da Lisa ihnen niemals freiwillig verraten hätte, wo er sich versteckt hielt, begann er die furchtbare Wahrheit zu ahnen.
Er konzentrierte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Hufschlag. Es musste ein ganzes Rudel sein, das Big Jim für die Jagd auf ihn mobilisiert hatte. Das Hämmern der Hufe schwoll schnell an und weitete sich aus zu einem unheilvollen Grollen, als würde ein Gewitter heraufziehen, und bald schlug es wie eine brausende Brandungswelle zu ihm her.
Hau ab, Lane!, dachte er. Noch hast du genügend Zeit!
Er handelte mit kaltblütiger Überlegung. Eiserne Entschlossenheit zeigte sich in seiner Miene. Ehe er floh, wollte er Big Jim noch einen Denkzettel verpassen. Scharfe Linien kerbten sich in seine Mundwinkel. Er holte die Winchester aus dem Scabbard, riegelte eine Patrone in den Lauf, führte die Pferde tiefer in das Gehölz hinein und leinte sie an. Dann verließ er den Platz mit dem kleinen See. Seine Blicke tasteten durch die Schlucht und suchten eine geeignete Deckung. Er durfte sich nicht allzu weit von den Pferden entfernen. Denn nur schnelle Flucht würde ihn am Ende vor der Übermacht der Great Sand-Mannschaft retten können. Er wusste es und handelte trotzdem wider alle Vernunft.
Er postierte sich hinter einem yardhohen Felsbrocken und spähte angestrengt und abwartend über den oberen Rand hinweg in den Canyon hinein. Und er sagte sich mit einem grimmigen Lächeln um die Lippen, dass sich Big Jim seiner Sache sehr sicher sein musste, nachdem er jedwede Vorsicht außer acht ließ. Erwartete Big Jim etwa, einen halbtoten Mann aufzustöbern, den jeder Kampfgeist verlassen hatte?
Lanes Lächeln verstärkte sich. Er würde den unbeugsamen Despoten eines Besseren belehren. Er dachte es im selben Moment, als der Hufschlag abrupt abbrach. Sein Lächeln verwischte. Sein Gesicht spiegelte äußerste Anspannung wider, seine Gedanken vollführten Sprünge. Die unheilschwangere, angespannte Stille begann an seinen Nerven zu zerren. Ahnte Big Jim die Gefahr, die bei dem kleinen See mitten in der Schlucht lauerte? Hatte er sich etwa darauf eingestellt, dass ihn anstelle eines halbtoten Mannes heißes Blei erwartete? Lane schimpfte sich einen Dummkopf, weil er nicht geflohen war. Diese Chance hatte er leichtfertig vertan. Seine Sinne arbeiteten mit doppelter Schärfe. Die Schlucht bot tausend Möglichkeiten, sich anzupirschen und ihn einzukreisen.
Schleichende Kälte kroch von Lanes Zehenspitzen hoch, zog durch seine Beine und schien sich in seinen Eingeweiden einzunisten. Die Stille war wie eine stumme Warnung vor Tod und Untergang. Und Lane konnte die Augen nicht länger vor der Tatsache verschließen, dass er sich selbst Big Jim ans Messer geliefert hatte. Er zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen. Die Aussichtslosigkeit seiner Lage wurde ihm bewusst. Aber in ihm war keine Furcht. Er hatte nichts mehr zu verlieren. Und er würde seine Haut so teuer wie nur möglich verkaufen.
*
Lane schien ganz ruhig und erweckte den Eindruck, als ob ihn die knisternde Spannung, die ihn umgab, nicht berührte. Nur seine Augen funkelten hellwach. Sein Blick tastete sich die zerklüfteten Felswände mit Nischen, Simsen und Vorsprüngen hoch. Lane hoffte, dass keiner der Kerle auf die Idee kam, irgendwo in der Wand Position zu beziehen und ihn von oben unter Beschuss zu nehmen.
Minuten reihten sich in zäher Langsamkeit aneinander. Und plötzlich vernahm Lane ein klirrendes Geräusch, als Metall gegen Gestein stieß. Es hing sekundenlang in der Luft und versank wieder in der Stille. Nun erst bemerkte Lane, dass das Vogelgezwitscher verstummt war. Er nahm eine flüchtige Bewegung am Fuß der südlichen Felswand wahr, starrte auf das Gebüsch, durch dessen Äste eine Erschütterung ging, die niemals von dem lauen Wind herrühren konnte, der durch die Schlucht zog. Der Lauf der Winchester wanderte etwas herum, Lane legte sie auf den Steinbrocken und visierte den Busch an.
Aber er schoss nicht. Er wartete nur ab, war angespannte Aufmerksamkeit. Und für ein paar Momente lang sah er aus den Augenwinkeln an der Nordwand ebenfalls eine geduckte Gestalt entlang huschen. Er reagierte nicht schnell genug. Ehe er das Gewehr in die neue Richtung anschlagen konnte, war sie in einer Felsnische verschwunden. Er richtete sein Augenmerk wieder auf das Gestrüpp. Wenn er sich nicht getäuscht hatte, dann musste der Bursche doch irgendwann wieder zum Vorschein kommen.
In der Tat. Ein Mann schob sich vorsichtig hinter dem Strauchwerk hervor. Lane identifizierte ihn als James Dembrow. Er kannte jeden der Reiter Big Jims vom Namen. Dembrow hielt sich eng an der Felswand und ließ seine nervösen Blicke in die Runde schnellen. Schritt für Schritt tastete er sich voran, und er hatte sicherlich nicht den Hauch einer Ahnung, dass er über Kimme und Korn einer Winchester beobachtet wurde. Er reckte den Hals, hob den Arm und gab seinem Gefährten auf der gegenüberliegenden Canyonseite ein Zeichen. Lane nahm den Kopf herum und sah den anderen Burschen aus der Felsnische gleiten. Er bewegte sich mit lautloser Geschmeidigkeit, und Lane vermutete, dass Big Jim die zwei Kerle vorausgeschickt hatte, um die Lage zu erkunden.
Der Bursche an der Nordwand bewegte sich dicht am Fels entlang. Im Gegensatz zu Dembrow hatte er seinen Colt in der Faust. Er nutzte den Schatten und die Felsvorsprünge geschickt aus. Dembrow näherte sich Lanes Stellung auf ähnliche Weise. Sie verschwanden aus seinem Blickfeld, tauchten wieder auf, verschwanden aufs Neue …
Lanes Vermutung wurde zur Gewissheit. Big Jim ging kein Risiko ein. Es war anzunehmen, dass er diese Schlucht kannte und dass er Lane am See wähnte. Und diese beiden Figuren sollten auskundschaften, wie groß die Gefahr war, die von ihm ausging.
Well, Freunde, ich werde euch einen gehörigen Strich durch die Rechnung machen!, versprach Lane den Burschen in Gedanken. Denn wenn er die beiden Burschen geräuschlos unschädlich machen konnte, dann eröffnete sich ihm noch einmal eine Chance zur Flucht.
Sein Körper beschrieb eine halbe Drehung. Er nahm die Winchester herunter und schätzte die Entfernungen. Dembrow, der an der Südwand entlangschlich, würde den kleinen See zuerst erreichen. Er sah ihn gerade wieder hinter einem Felsbrocken hervorgleiten. In grimmigem Entschluss zog Lane sich zurück. Der Felsen, der ihm Schutz geboten hatte, verbarg ihn auch weiterhin vor ihren Blicken. Bei einer Buschgruppe legte er sich flach auf den Bauch und robbte, die Ellenbogen wie Ruder benutzend, hinein. Er kam auf der anderen Seite wieder heraus und bewegte sich nach links. Einmal verharrte er, lugte durch das Zweiggeflecht, konnte aber nichts erkennen. Er kroch weiter. Noch verbargen ihn die Büsche vor unliebsamen Blicken. Aber dann erreichte er das Ende des Buschstreifens. Fünfzehn Schritte bis zum Teich, fünfundzwanzig bis zu dem Erlenwäldchen, in dem er seine Pferde versteckt hatte. Seine Wunde meldete sich wieder mit pulsierendem Ziehen. Sein Blick suchte Dembrow. Der war noch etwa fünfzig Yards von dem kleinen See entfernt. Er schien etwas in seiner Wachsamkeit nachgelassen zu haben, denn er bewegte sich ziemlich schnell und ließ viele Deckungen aus.
Vor den Blicken des anderen Great Sand Reiters würde ihn der Buschgürtel schützen. Er musste sich ungefähr auf der Höhe Dembrows befinden und war somit von Lane mehr als doppelt so weit entfernt.
Sie verständigten sich wieder durch Handzeichen. Jetzt hatte auch Dembrow den Revolver gezogen. Gleich musste er wieder hinter dichtem Gebüsch verschwinden. Es reichte bis an die Felswand heran. Dembrow würde seine ganze Aufmerksamkeit aufwenden müssen, um sich nicht durch zurückschnellende Äste oder knackende Zweige zu verraten. Wenn sie auch nicht wissen konnten, ob er sich überhaupt noch hier befand – sie mussten damit rechnen. Und darum waren sie höllisch auf der Hut.
Es war soweit. Dembrow schlüpfte in das Gestrüpp und verschwand aus Lanes Sichtkreis. Wie von Furien gehetzt robbte er los, kroch wie eine Schlange durch Geröll und über Inseln harten Grases und erreichte die ersten Erlen, unter deren Laubdach Licht und Schatten wechselten und den Eindruck erweckten, als befände sich der Boden in ständiger Bewegung.
Atemlos