»Wo hat Turpin sich verkrochen?«, peitschte Big Jims zerspringende Stimme.
Ihre Arme hingen schlaff herab. Sie sah ihn an, und die Besessenheit in seinem Blick erschreckte sie. Aber sie erkannte auch, dass sie die Flinte nicht ins Korn werden durfte, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte. Sie fasste sich. Unter Aufbietung aller Willenskraft befreite sie sich von Angst und Schrecken. Ihr Widerstandsgeist loderte noch einmal auf.
»Suchen Sie ihn, Forsyth!«, rief sie mit klarer, präziser Stimme, furchtlos und trotzig. »Von mir erfahren Sie jedenfalls nicht, wo Lane sich versteckt hält. Jagen Sie Ihre Gunslingerbande in die Sättel und lassen Sie das Land nach ihm durchkämmen. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen dabei.«
»Ist das dein letztes Wort, Lisa Reed?«, schnappte Big Jim böse.
»Nein. Etwas will ich Ihnen noch sagen: Ich danke Gott, dass es mir gelungen ist, Lane Turpin vor Ihnen in Sicherheit zu bringen. Ich habe dadurch einen weiteren Mord verhindert. Ihr Sohn hat nicht viel getaugt, Forsyth. Er war verkommen, er war durch und durch schlecht. Und wenn Lane es nicht getan hätte, wäre er irgendwann von einem anderen Mann gerechterweise getötet worden. In Alamosa war keine Frau vor ihm sicher. Und schon so mancher Ehemann hat geschworen, Bill Forsyth umzubringen, weil er seine Frau in einer Art und Weise belästigte, die zum Himmel schrie. Er …«
»Schweig!«, brüllte der Rancher in einem Anfall jäher Wut. Die Umstehenden zuckten zusammen. Sein Gesicht nahm fast tierische Züge an. Ein hässliches Funkeln stieg aus der Tiefe seiner Augen.
»Die Wahrheit ist schwer zu ertragen - ich weiß«, fuhr Lisa ungerührt fort. Ihre Miene veränderte sich nicht, blieb gleichmäßig kühl, und ihrem Tonfall war nicht mehr die geringste Erregung anzuhören. »Aber es ist nun mal die Wahrheit«, setzte sie hinzu, »und Sie werden sie akzeptieren müssen. Ihr Sohn war nichts wert. Im Übrigen hat Lane ihn in Notwehr erschossen. Nur schade, dass Charles Turpin noch seiner Niedertracht zum Opfer fiel.«
Big Jims Gesicht hatte sich von einer Fratze des glühenden Hasses in eine Grimasse der namenlosen Ungläubigkeit verwandelt. Sein röchelndes Keuchen war Ausdruck seiner Sprachlosigkeit. Aber dann kam der Zorn zurück, jäh und wild wie eine Sturmwoge. Dick schwoll seine Halsschlagader an. Er nahm seinen lodernden Blick von Lisa und richtete ihn auf ihren Vater, der vor ihm im Staub lag. Es war ein Blick voll Wahnsinn, Mordlust und Teufelei.
»Meine Peitsche, John! Ich will ihm das Fleisch von den Knochen schlagen - und sie wird mir sagen, wo ich Lane Turpin finde!«
Sogar die hart gesottenen, abgebrühten Burschen ringsum schien plötzlich ein Frösteln zu erfassen. So manche Stirn umwölkte sich, so manche Hand ballte sich in hilfloser Ohnmacht zur Faust. Ein jeder kannte Big Jims Unduldsamkeit - und keiner wollte Opfer seiner wechselvollen Stimmung werden. Also verschwand einer der Cowboys im Pferdestall. und als er wieder herauskam, trug er die zusammengerollte Bullpeitsche.
Ein Schrei staute sich in Lisa, das Entsetzen tobte in ihr wie eine Sturmböe. Ihr Selbstbewusstsein war zerbrochen. Furcht, kalt und stürmisch wie ein Blizzard, ergriff sie. »Nein!«, stieß sie hervor. »Großer Gott …«
Big Jim entriss dem Cowboy die Peitsche. Seine Rechte umklammerte den Stiel, dass die Knöchel weiß hervortraten. Der Riemen fiel in den Staub, bewegte sich in Schlangenlinien. Der Arm zuckte hoch. Pfeifend wurde die Luft zerschnitten. Der Bann fiel von Lisa und sie sprang Big Jim an, klammerte sich an seinen Arm und schrie wie von Sinnen. Clay Reed bäumte sich am Boden auf. Aber der Riemen traf ihn nicht. Er riss eine Staubwolke in die Luft. Mit einem verlöschenden Gurgeln fiel Reed wieder zurück.
John Landers sprang hinzu. Er packte Lisa am Hemd und zerrte sie zurück. Der Stoff krachte und riss. Sofort stürzte das Mädchen sich wieder auf Big Jim. Der hatte Front zu ihr eingenommen und wehrte sie mit einem ungestümen Herumschleudern des Armes ab. Lisa flog in den Staub. Aber mit dem Mut der Verzweiflung kam sie sofort wieder hoch. Wirr hingen ihr die Haare in die Stirn. Ihr Mund stand halb offen, auf ihren Wangen zeichneten sich noch die Abdrücke von Big Jims Fingern ab, in ihren Augen war ein irres Flackern.
Big Jim hatte sich wieder Clay Reed zugewandt. Und wieder pfiff die Peitsche durch die Luft. »Aufhören!« Lisas Stimme überschlug sich. »Lane befindet sich in der Alderschlucht! Bei allen Heiligen — hören Sie auf!« Sie sank auf die Knie, krümmte den Rücken, drückte ihr heißes, brennendes Gesicht in die Handflächen und wurde von hemmungslosem Weinen geschüttelt.
Big Jims Arm mit der Peitsche sank herab. Der unerbittliche Mann warf John Landers einen triumphierenden Blick zu. »Ich wusste es doch, dass sie klein beigeben wird!«, kam es mitleidlos und ohne jede Gemütsregung über seine Lippen. »Auf die Pferde, Leute - zur Alderschlucht!«
*
Als Lane erwachte war es hell. Er hatte tief und traumlos geschlafen und fühlte sich wie neugeboren. Aber das Ziehen und Stechen in seinem Oberschenkel und das Brennen auf seiner Wange von dem Streifschuss erinnerten ihn schlagartig wieder an die schrecklichen Geschehnisse des vergangenen Tages. Er schälte sich aus seiner Decke, erhob sich und reckte Arme und Schultern, um seine verkrampften Muskeln und Sehnen zu lockern.
Die beiden Pferde standen zwischen den Erlen und zupften an dem taufeuchten Gras, das hier wuchs. Der Packsattel mit dem Proviant lag am Boden. Seinen Sattel hatte Lane als Kopfkissen benutzt.
Er ging steifbeinig zum See und war bemüht, sein Gewicht auf das unverletzte Bein zu verlagern. Bei jedem Schritt klatschte das Halfter mit dem langläufigen 45er gegen seinen Oberschenkel. Sein Handgelenk streifte den Knauf. Er wusch sich das Gesicht, strich sich mit den gespreizten Fingern durch die dunklen Haare und schaute sich um. Am Tage sah dieser Platz weitaus freundlicher aus als in der Nacht, in der ihm die Schlucht vorgekommen war wie ein riesiges Grab des Schweigens.
Sein Blick wanderte die Felswände hinauf. Sie klafften oben weit auseinander und der Himmel spannte sich azurblau über ihnen. Lane stakste zum Packsattel und suchte sich ein Frühstück zusammen. Er fand Kaffeepulver, eine Kanne und eine Tasse aus Blech, die zwar schlimm verbeult war, die aber ihren Zweck erfüllen würde.
Bald flackerte ein kleines Feuer. Über zwei Astgabeln, die er in den Boden gerammt hatte, hing der Topf mit Wasser an einem Stock. Lane schaute an sich hinunter. Ein bitteres Lächeln zerpflügte sein hohlwangiges, stoppelbärtiges Gesicht. Die Hose, die ihm Clay Reed geborgt hatte, kniff und zwickte erbärmlich und umspannte seine Beine wie eine zweite Haut. Sie reichte nur bis knapp über die Knöchel.
Vorsichtig ging er in die Hocke. Versonnen starrte er in die Flammen. Der lang schwelende Zwist zwischen der Bar-T und der Great Sand Ranch war mit alptraumhafter Grausamkeit eskaliert. Lane hielt den Atem an. Vor seinen Augen wirbelte eine wirre Folge von grellen Bildern. Bilder, die sich ihm unauslöschlich eingeprägt hatten. Bitterkeit und tiefer Schmerz überschatteten sein Gesicht. Er spürte das Unheil tief in seiner Seele. Gut, er hatte Bill Forsyth getötete. Aber es war in Notwehr geschehen. Außerdem hatte Bill den Tod verdient. Lane dachte ohne besondere Regung darüber nach, und die kalte Gelassenheit, mit der er Bill Forsyths Tod akzeptierte, erschreckte ihn selbst.
Er schlürfte den heißen Kaffee. Dazu kaute er trockenes Brot und kalten Speck. Um ihn herum war Vogelgezwitscher. Das Feuer brannte langsam herunter. Er hatte bald gefrühstückt und führte die Pferde zur Tränke. Tageswärme kroch in die Schlucht. Lane fühlte sich kräftig genug, um diesen Platz zu verlassen. Die Ungewissheit, was Coles Schicksal betraf, ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Eines war sicher: die Great Sand Mannschaft hatte nicht auf Cole geschossen. Big Jim wollte ihn lebend. Also bestand die Möglichkeit, dass Cole noch am Leben war.
Er dachte an Lisa. Ihrer Ansicht nach sollte er eine Woche in diesem Canyon bleiben. Eine Woche! Die Ungewissheit würde ihn umbringen. Unvermittelt erfasste ihn Unrast, eine Unruhe, die ihn mehr und mehr