Es könnte aber auch ganz anders sein. Der schöpferischen Allmacht, die wir Gott benennen, könnte es auch eingefallen sein, gerade hier von ihren selbst festgelegten, zwingenden Spielregeln abzuweichen und mit uns den einmaligen Versuch eines vernunftbegabten Wesens zu wagen, das in der Lage ist, die Geschehnisse kraft des eigenen Verstandes zu beeinflussen. Untrennbar mit der Vernunft verbunden sind das Gewissen und die Lernfähigkeit. Leider hat er uns all die andern, oben aufgeführten Triebe gelassen, sodass in der Vorbereitung der menschlichen Handlungen der Verstand vielfach diesen andern Trieben unterliegt. Vielleicht dachte er sich, dass wir aus den immer schrecklicher werdenden Kriegen irgendwann unsere Lehren ziehen werden, doch könnte es sein, dass er uns da ein wenig überschätzt hat.… Was er wirklich will, weiss nur er. Aber so liesse sich wenigstens halbwegs erklären, weshalb sich auf der Erde immer wieder solche Gräuel ereignet haben und wohl weiterhin ereignen werden, ohne dass Gott eingreift. Man muss deswegen nicht an seiner Existenz zweifeln. Man muss nur damit aufhören, ihm menschliche Massstäbe zuzuordnen und von ihm bestimmte Handlungsweisen zu erwarten.
Eine andere Frage ist es, ob diese Allmacht, die das Ganze in Bewegung gesetzt hat, überhaupt noch existiert, oder ob sie mit der Schöpfung des Systems in diesem aufgegangen ist und dieses nun nach vorgegebenen Mechanismen abläuft, oder ob Gott doch ab und zu persönlich eingreift. Wir wissen es nicht.
Diese „Spielregeltheorie“ weiter gedacht würde bedeuten, dass jede Bewegung, die wir machen, jeder Flügelschlag einer Stubenfliege, das Produkt vorgegebener körperlicher, geistiger und seelischer Dispositionen ist, die wiederum aufgrund einer oder mehrerer Spielregeln aus früheren Dispositionen – vielleicht unserer Eltern – entstanden, also auf lange Sicht geplant sind. Somit würde immer feststehen, was wann passieren wird. Das würde auf eine Art Fatalismus hinauslaufen.
Unsinn, wird man einwenden, das ist gar nicht möglich, dass es solche Spielregeln gibt, die jeden Einzelfall steuern. Das ist gar nicht vorstellbar. Zumindest übersteigt es unser Vorstellungsvermögen. Aber ein Gott, der immer zugegen ist, im Weltall und auf der ganzen Welt, bei jedem einzelnen von über sieben Milliarden Menschen, und der dazu auch noch die unzählbaren Tiere betreut, der die Dinge laufend und überall im Griff hat, „ad hoc“ regelt oder zulässt, der über die Verdienste und Missetaten jedes Einzelnen Buch führt und abschliessend über dessen Endlagerstätte in der Ewigkeit entscheidet, ist denn das real besser vorstellbar? Und wie ist denn das mit dem Weltall? Auch dieses übersteigt unser Vorstellungsvermögen; dennoch existiert es. Wenn einer ein Weltall mit all seinen gewaltigen Gesetzmässigkeiten schaffen konnte, warum sollte er dann nicht in der Lage sein, auch die Spielregeln für den Ablauf auf der Erde festzulegen? Die Begrenztheit liegt nur in unserem Vorstellungsvermögen.
Gewiss, es ist ja auch denkbar, dass alle drei Systeme bestehen und zusammenwirken, das der Spielregeln, das des ad-hoc - steuernden Gottes und das des freien, verstandesgesteuerten Willens. Wiederum: Wir wissen es nicht. Daher sind das auch keine Behauptungen; für solche mangelte es ja an jeder Art von Beweisen, sondern nur Betrachtungen, Überlegungen. Noch weniger ist es ein Glaube, denn ich halte nicht im Sinne eines Glaubens daran fest; es sind einfach Gedanken, die mir die Möglichkeit eröffnen, die Existenz eines allmächtigen Gottes mit dem täglichen Geschehen auf der Erde einigermassen in Einklang zu bringen. Ich sage nur, es könnte so sein, genau wie es auch so sein könnte, wie es die Kirchen darstellen und wie es in der Bibel steht. Letzteres wünsche ich mir ganz besonders stark nach dem Tode eines lieben Menschen, den ich wiedersehen möchte. Ich wünsche es mir – aber ich weiss es nicht.
Burkhard Ellegast, Abt em. des Stifts Melk und Verfasser des Buches „Der Weg des Raben“, schrieb mir einmal: „Gott ist vielleicht so ganz anders, als wir ihn uns denken können.“
Und der deutsche Theologe Dietrich Bonhoeffer, den die Nazis am letzten Kriegstag im Konzentrationslager ermordeten, sagte:
„Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht. Gott – oder wie man diese Allmacht nennen will – ist viel zu gross, als dass sie sich durch uns erfassen liesse.“
Das sind die Erkenntnisse grosser Theologen. Und in den Zehn Geboten heisst es schliesslich:
„Du sollst dir kein Gottesbild machen…“ (Ex. 20, 4).
Das Buch des Theologen Hans Küng mit dem Titel „Was ich glaube“ habe ich gelesen, weil ich wissen wollte, wie ein religiöser und so intelligenter Mensch mit diesen Widersprüchen zurechtkommt. Das Buch schliesst mit der Aussage „Ich hoffe, dass es auch für mich selbst eine Auflösung aller Widersprüche… geben wird.“ Die Widersprüche sind auch bei ihm geblieben. Er hofft. Er weiss es nicht.
Natürlich sind diese Gedanken nicht neu, sie bestanden beispielsweise bereits in der Zeit der Aufklärung unter dem Begriff „Deismus“. Vielleicht kam der römische Dichter Ovid (43 v.Chr. – 17 n.Chr.) in seinen Metamorphosen der Sache schon viel früher näher mit dem Satz: „Deus sive natura”, sei es Gott oder die Natur - es ist einerlei. Demgegenüber sind viele christliche Theologen davon überzeugt, über dieses Wissen zu verfügen, und sie geben es eifrig weiter. Sie schöpfen es aus der Bibel. Was liegt daher näher, als ebenfalls dieses Buch zur Hand zu nehmen und sich mit ihm auseinander zu setzen?
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