Die Uhrenträgerin. Anja Heyde. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Heyde
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783748299011
Скачать книгу
Statur. Sie ist auch nicht viel größer als der Dicke. Unter ihrem grauen Trenchcoat – ebenfalls mit hochgeschlagenem Kragen – trägt sie ein geblümtes Kleid. Es hat Puffärmel und Rüschen zur Verschönerung. Beides lag wohl schon zu lange in einer mottenbewohnten Kleiderkiste. Überall am Kleid sind Fresslöcher zu erkennen. Ausgelatschte, abgenutzte Blümchenstöckelschuhe sollen ihre dürren, in einer mit Laufmaschen übersäten Strumpfhose steckenden Beine betonen. Zerzauste, wasserstoffblonde Haare hat sie zu einer Turmfrisur auftoupiert und mit Haarnadeln festgesteckt. Eine seltsam geformte lange Nase hat sie. Dicke, aufgesprungene Lippen und schlechte Zähne – ähnlich wie der Dicke – runden ihr Profil ab. Ihre Finger sind so lang wie Schaschlikspieße. Diese hält sie immer noch zum Aufwärmen über das Feuer. Destineaux kennt die Sorte "Mensch". Irgendwas stimmt mit denen immer nicht.

      Diese Beiden hier kommen öfter um sich zu treffen. Sie haben meist etwas zu tuscheln und schauen sich die ganze Zeit um. So als fürchteten sie, entdeckt oder belauscht zu werden.

       DAS MARSHMALLOW-ARMBAND

      "Wo warst Du heute bloss den ganzen Tag Roswitha?" fragt der kleine Dicke die Zerzauste.

      "Unterwegs in der Stadt – auf der Suche nach Brauchbarem, wie immer." antwortet die Langnasige. Sie beugt sich näher zu ihm runter und flüstert: "Und ich habe Dir, mein lieber Piet, Etwas mitgebracht."

      "Ja? Was denn, was denn?" – der Dicke ist ganz aufgeregt und auch Destineaux spitzt seine Ohren.

      "Hier sieh!" Roswitha angelt aus ihrer Jackentasche ein interessant aussehendes Armband. Warum sieht es interessant aus? Weil es aus vielen bunten Marshmallows besteht.

      "Oh, wo hast Du das denn her?" Piet klatscht vor Aufregung in die Hände und hüpft dabei von einem seiner gekrümmten Beine auf's andere.

      "Dieses Armband habe ich letzte Woche einem alten Mann abgenommen. Der lag schlafend auf einer Parkbank. In seiner Hand hielt er das Armband und lächelte friedlich vor sich hin. Da dachte ich mir, das muss etwas Besonderes sein… und… schwups hatte ich es!"

      "Und? Was kann es?" Piet kann sich vor Aufregung kaum ruhig halten.

      "Schau, das Armband hat farblich unterschiedliche Marshmallows. Jeder Marshmallow vermag etwas Magisches zu tun. Nur die ganz Kleinen hier, die Farblosen, die sind nichts wert."

      Piet platzt fast vor Neugier und möchte jetzt alles wissen: "Erzähl, erzähl! Hast Du es schon ausprobiert?"

      Destineaux traut seinen Ohren nicht. Worüber wird hier gesprochen? Von magischen Marshmallows? Marshmallows sind doch diese süßen, klebrigen Dinger zum essen! Geht's hier etwa um Hexerei? Aber näher heran möchte er nicht gehen, da ihm die ganze Situation irgendwie unheimlich ist. Also bleibt er wo er ist und spitzt weiter seine großen Ohren. Dafür sind sie also doch ganz gut.

      Die langnasige Roswitha spricht weiter. "Da ich mir etwas unsicher war, was die Marshmallows betraf, suchte ich eine alte Bekannte auf und fragte um Rat. Dann waren nur noch einige Verwünschungssprüche nötig, um das Rätsel des Armbands zu lösen.

      "Nun mach's doch nicht so spannend Roswitha!" Piet wird langsam ungeduldig.

      "Also Piet: es hat sich herausgestellt, dass zum Beispiel der rote dicke Marshmallow hier für eine gewisse Zeit das Aussehen eines Lebewesens verändern kann. Der Marshmallow muss nur in heißer Schokolade geschmolzen und dann in großen Schlucken getrunken werden.

      "Und in was könnte ich mich dann verwandeln?" fragt Piet.

      "Na in einen großen, attraktiven Mann!" prustet Roswitha los und lacht aus vollem Halse, dass Destineaux fast die Ohren weh tun.

      Plötzlich ist vom Hausdach über ihnen ein Kratzen und Schaben zu hören. Es rumpelt und poltert und eine struppige, abgemagerte Katze landet mitten in den Müllabfällen. Pollagia!

      Die Langnasige fängt wegen ihrer angeborenen Katzenhaarallergie sofort an zu husten und zu niesen. Immer lauter und heftiger, so dass die kleinen, wässrigen Tröpfchen aus Nase und Mund nur so herum schießen. Ein Nieser ist so stark, dass ihr das Armband aus den knochigen Fingern gleitet. Es landet in der Asche des mittlerweile erloschenen Feuers, weit unten auf dem Boden der Blechtonne. Na toll!

      Auf einmal sind Sirenen zu hören. Erst leise, dann immer lauter! Unverkennbar eine Polizeisirene! Plötzlich sind Schritte zu vernehmen, die immer schneller werden und auf dem Kopfsteinpflaster laut widerhallen. Da ist ein dunkel gekleideter Mann zu sehen. Er rennt mit großen Schritten an Piet, Roswitha und der im Müll hervorlugenden Katze vorbei. In der Hand hält er einen ebenfalls dunklen Koffer. Aus diesem Koffer gucken… Geldscheine heraus!

      "Schnell, schnell – wir müssen das Armband aus der Asche fischen!" ruft der Dicke. "…bevor die Polizei hierher kommt."

      Aber es ist zu spät! Der Streifenwagen hält mit quietschenden Reifen und Vollbremsung in der kleinen Seitengasse. Zwei Polizisten steigen eilig aus und nähern sich langsam den Gestalten.

      "Komm, komm, wir müssen weg! Vergiss das Armband. Die dürfen uns nicht kriegen. Wenn die merken, dass wir mehr auf dem Kerbholz haben, als hier herumzulungern, dann sind wir geliefert."

      Roswitha zieht Piet am Arm davon und hinter eine große Abfalltonne. Sie macht mit den Fingern ein paar fahrige Bewegungen und schnipp-schnapp sind sie weg.

      Zurück bleiben die verdutzt drein schauenden Polizisten, die sich eben aus dem Müll befreite Katze und Destineaux. Er ist immer noch etwas durcheinander wegen der Sache mit dem Marshmallow-Armband. Die beiden Uniformierten versichern sich, dass der angebliche Gelddieb nicht mehr auftauchen wird. Dann machen sie sich unverrichteter Dinge auf den Rückweg, steigen in ihr Auto und brausen davon.

      Destineaux ergreift als Erster das Wort.

      "Hey, Du, Katze… hilf mir mal, das Armband aus der Aschetonne zu holen!" ruft Destineaux der Katze zu. Doch die Katze ist immer noch dabei, Unrat und Müll aus ihrem struppigen Fell zu entfernen. Dieser hatte sich bei der Landung in den nach Fäulnis stinkenden Müllbergen überall auf ihrem mageren Körper festgesetzt.

      "Ich habe keine Kraft dazu, da ich seit Tagen Nichts gefressen habe. Mir tut vom Sturz hier runter alles weh." maunzt Pollagia dann verzweifelt.

      Ein leises Keuchen ist jetzt zu hören. Destineaux guckt in die Richtung, aus der das Keuchen kommt. Da ist er! Der Mann mit dem Koffer voller Geld steht halb verdeckt hinter einer Hauswand.

      Destineaux kann nicht glauben, dass er zurückgekommen ist. Er muss sich irgendwo versteckt haben.

      Der Fremde lugt nun vorsichtig hinter der Hauswand hervor, um sich zu vergewissern, dass die Luft rein ist. Er sieht nur eine Maus und eine Katze nahe einer Aschetonne sitzen. Langsam nähert sich der angebliche Dieb den Tieren. Destineaux hat eine Idee. In Windeseile flitzt er mutig auf den Mann zu. Er kriecht in sein linkes Hosenbein und hangelt sich nach oben. Der Dieb fängt vor Schreck an zu Zucken und zu Zappeln. So stark, dass dem Fremden der Geldkoffer aus der Hand gleitet und in hohem Bogen mitten in der Aschetonne landet.

      "Oh Nein!" flucht der Dieb. "Jetzt muss ich auch noch im Dreck wühlen."

      Destineaux ist durch das Gezappel des Mannes durch das rechte Hosenbein wieder raus auf dem Boden gelandet und prescht Richtung Aschetonne. Der Dieb ist schon dabei, nach dem Geldkoffer in der Aschetonne zu angeln. Er wirft alles, was ihm zwischen die Finger kommt, aus der Tonne raus. Und, wie sollte es anders sein, auch das Marshmallow-Armband. Mit seinen scharfen Zähnen schnappt sich der Mäuserich das Armband und schleift es in Sicherheit.

      Der schwarzgekleidete, angebliche Gelddieb dreht sich um, blickt in die Richtung von Destineaux und flüstert: "Was hast Du da?"

      Da greift Pollagia plötzlich in das Geschehen ein. Sie stellt sich vor Destineaux, macht einen Katzenbuckel so gut es ihre vorhandenen Kräfte noch zulassen und faucht so furchteinflößend wie nur möglich: "Finger weg von dem kleinen Mäuserich, der gehört mir!"

      Womit Pollagia – und auch Destineaux – nicht gerechnet hat