das Fahrrad der ewigen Stille. hedda fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: hedda fischer
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783734520532
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ihm nach kurzer Zeit der Schweiß herunter, und der Muskelkater wollte gar nicht mehr aufhören. Aber dann – nach rund drei Wochen – bemerkte er Fortschritte. Die Klötze schienen leichter zu werden, Arme und Beine schmerzten nicht mehr so sehr. Muskeln hatten sich noch nicht gebildet, aber wenn er seine Oberarme befühlte, schienen sie härter geworden zu sein.

      Er übte auf dem Schulhof den ’knallharten Blick’ – wie Jackie Chan in den Kung-Fu-Filmen -, um die anderen in Schach zu halten. Die anderen, das waren die Jungs aus seiner Klasse, die ihn wegen seines Namens hänselten. Er hörte die höhnischen Stimmen jeden Tag.

      Sie waren nicht unbedingt größer oder stärker als er, hatten aber mehr Selbstbewusstsein, besaßen die richtigen Sachen, Handys, gute Turnschuhe, coole Klamotten. Das alles hatte er nicht. Was daran lag, dass seine Mutter zeitweise gar nichts und wenn, dann nur wenig verdiente. Irgendwie ungerecht war das schon. Aber ändern konnte er es nicht. Jedenfalls jetzt noch nicht.

      Seine Mutter hängte sich bei dem Mann ein, sagte im Vorbeigehen, er solle brav sein und zu Hause bleiben, und dann machten sich die beiden auf den Weg. Sie drehte sich nicht mal um. Natürlich blieb er zu Hause.

       Was sollte er denn sonst tun?

      Taschengeld bekam er nur wenig, und diesen Monat hatte er ohnehin schon fast alles ausgegeben. In seiner Hosentasche befanden sich noch ein Euro fünfzig. Aber damit konnte er nicht ins Kino gehen - allein war das sowieso langweilig -, sich keine Bratwurst kaufen, es reichte allenfalls für eine Tüte Chips zu 99 Cent. Dann blieben ihm noch 51 Cent für morgen. Oder er kaufte sich jetzt Kaugummi, und damit wäre das ganze Geld weg. Er ärgerte sich, dass er gestern für 2,49 Kuchen vom Vortag gekauft hatte. Die Hälfte hätte es auch getan.

      Langsam stieg er die Treppe hoch bis zum fünften Stock. Er nahm nie den Aufzug, weil er das Treppensteigen gut für seine Kondition hielt. Abgesehen davon, man wusste nicht, wer sich mit in den Aufzug drängte. Wenn er Pech hatte, stiegen die Zwillinge aus dem dritten Stock ein, hielten ihn fest und durchsuchten seine Taschen nach Brauchbarem. Sie waren drei Jahre älter und größer als er. Gegen sie kam er nicht an. Wenn er ihnen auf der Treppe begegnete – was eher selten vorkam – hatte er gute Chancen zu entkommen, denn er war schnell. Wenn er nach oben rannte, drückte er im Vorbeilaufen auf sämtliche Klingelknöpfe, so dass die Leute die Köpfe aus den Türen steckten, sich beschwerten, und die Zwillinge aufgaben. Wenn er nach unten rannte, war er blitzschnell aus der Haustür und in einer der anliegenden Straßen verschwunden. Die Zwillinge machten sich nie die Mühe, ihn ernsthaft zu verfolgen. Sie wussten nur zu gut, dass er ihnen wieder einmal über den Weg laufen würde.

      Auch konnte es sein, dass andere Hausbewohner im Aufzug einen prüfenden Blick auf ihn warfen und lauthals über seine Mutter sprachen ( als ob er gar nicht vorhanden wäre ). Und sie sprachen nichts Gutes. Es klang immer abfällig, obwohl er nicht so richtig einordnen konnte warum eigentlich. Er fühlte dann, dass er rot wurde, blickte zu Boden, und schwor sich, diesen Leuten eines Tages eine reinzuhauen, aber so richtig.

      Im Kühlschrank fand er Salami und Käse, schnitt sich einige Scheiben Brot ab, nahm alles mit ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Sofa. Auf dem Tisch davor standen eine Flasche klarer Schnaps und zwei Gläser. An einem sah er Lippenstift. Er roch an dem Glas und ließ den winzigen Rest auf seine Zunge tropfen. Er schmeckte grässlich. Im Vorabendprogramm lief die „Lindenstraße“. Von dieser Serie kannte er bereits alle Folgen, aber da er nichts Interessanteres fand, sah er erst einmal zu. Der gemütliche Abend konnte beginnen.

      Viertel nach zwölf war seine Mutter noch immer nicht nach Hause gekommen, und er fragte sich, ob sie mit zu dem Mann gegangen war. Eigentlich war er müde, aber es hatte noch einer der Filme angefangen, die für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet waren ( wie es im Vorspann immer so schön hieß ), der ihn aber interessierte. Er zwang sich, die Augen offen zu halten, wenn Leute verprügelt oder gefoltert wurden und Blut floss. Auch wenn er manche Szenen nicht ansehen mochte, weil sie ihn erschreckten, zugegeben hätte er das nie. Danach konnte er mitunter nicht einschlafen oder er fand sich, mit eingeschlafenen Gliedern und verrenktem Nacken, um zwei Uhr morgens auf dem Sofa wieder und wusste gar nicht, wie der Film ausgegangen war.

      3 – Mutter Valentina

      Benjamin wurde in die Möwensee-Schule eingeschult. Sie lag nicht weit von ihrer damaligen Wohnung in der Otawistraße entfernt. Zu Fuß - sogar mit seinen kleinen Füssen und den kurzen Beinen - in fünfzehn Minuten zu erreichen. Er war ja eher ein kleines Kind, klein, aber stämmig. Er war voller Vorfreude an ihrer Hand dorthin getrabt. Und die ersten zwei-drei Jahre ließen sich auch gut an. Er war aufmerksam, kam gut mit. Doch irgendwann kam er mit den anderen Jungs nicht mehr zurecht. Warum, wusste sie nicht. Er wurde aggressiv und schlug um sich, wenn sie ihn ärgerten, und dann hänselten sie ihn noch mehr. Allein gegen mehrere konnte er sich nicht wehren. Einen richtigen Freund hatte er ab der dritten Klasse nicht mehr, da der einzige, Lars Meyer, mit seiner Familie in einen anderen Bezirk gezogen war. Vater Meyer, das war auch so einer, von einem Job in den nächsten. Aber diesmal schien es etwas Besseres zu sein. Denn sie zogen nach Wilmersdorf, eine recht feine Gegend, nicht so fein wie Zehlendorf oder Charlottenburg, aber zumindest feiner als Wedding. Und unendlich weit weg. Zumindest für kleine Jungen.

      Danach konnte sich Benjamin mit keinem anderen mehr anfreunden. Er wurde auch nicht zu Geburtstagen eingeladen. Kinder können sehr grausam sein.

      Mit Mädchen ging es besser. Mit denen konnte er reden und spielen. Und wenn sie ihn akzeptierten, machte es ihm nichts aus, dass die anderen Jungen ihn belächelten. Bei den Mädchen war er der Star, weil er mehr Kraft hatte, wenn es darum ging, einen Ball zu werfen, auf einen Baum zu klettern, ohne sich darum zu kümmern, ob die Kleidung verschmutzt oder zerrissen wurde, Papierkörbe umzuwerfen, ohne die Strafe zu fürchten beziehungsweise sie mit einem Achselzucken abzutun. Entsetzlich, wie er manchmal nach Hause kam ! Aber sie war froh, dass er überhaupt mit anderen unterwegs war.

      Er war ohnehin erwachsener als andere Kinder, weil er schon mit sechs-acht Jahren viel allein war ( sie ging ja immer arbeiten ), einkaufen gehen musste, einen eigenen Schlüssel besaß, sein Leben zum Teil selbst bestimmte. Sich auch erwachsen fühlte, wenn sie mit ihm wie mit einem Erwachsenen sprach. Er versuchte, es ihr recht zu machen, was nicht immer gelang. Sie wusste durchaus, dass er komplette Nachmittage vor dem Fernseher herumhing, anstatt seine Hausaufgaben zu erledigen, konnte allerdings nichts dagegen tun. Oder er vergaß, einkaufen zu gehen, obwohl sie ihm einen Einkaufszettel und Geld hingelegt hatte. Erst viel später erfuhr sie, dass er es nicht vergessen, sondern sich in die Wohnung geflüchtet hatte, wenn er von den Zwillingen verfolgt wurde und sich nicht wieder hinaus traute, aber nicht wagte, ihr das zu gestehen.

      Und sie schimpfte auch noch mit ihm. Er wollte nicht, dass sie sich einmischte. Das hätte ausgesehen, als ob er ein Muttersöhnchen wäre. Und das war er ganz sicher nicht.

      Natürlich berührte sie ihn, wenn sie ihn badete. Und das tat sie lange Zeit. Denn auch wenn er allein in die Wanne kletterte, freute er sich, wenn sie das Badezimmer betrat, ihn einseifte, überall. Ihr machte es Spaß und auch ihm schien es Spaß zu machen. Seine weiche Haut. Sein kleiner Penis, der sich erfreut aufrichtete.

      Im Großen und Ganzen kam er gut allein zurecht, würde sie sagen.

      Ihre Mutter war nicht dieser Ansicht. Man könne ein so kleines Kind nicht dauernd allein lassen, bekam sie oft zu hören. Aber er war gar nicht so viel allein. Allenfalls an den Abenden, an denen sie arbeiten gehen musste.

      Schulisch gesehen hatte er sich letztendlich doch angestrengt und war mit elf Jahren ins Lessing-Gymnasium gewechselt. Auch dort war er nicht der beliebteste. Woran es lag ? Das wusste sie nicht. Es war ja nicht der Fall, dass er unfreundlich zu den Klassenkameraden gewesen wäre, dass er nichts auslieh, dass er unsportlich war. Nein, er kam aus einer anderen Schicht, obwohl der Bezirk Wedding nicht gerade mit wohlhabenden Leuten gesegnet war. Aber er hatte weniger Taschengeld als die anderen. Das war aufgrund ihres Gehaltes so. Sie ließen es ihn spüren. Wobei durchaus unklar war, weshalb die anderen mehr Taschengeld hatten. Auch andere Eltern waren nicht gerade gut gestellt. Wurde da geklaut ? Heimlich Geld aus dem Portemonnaie der Mutter genommen ?

      So nach und nach passte er im Unterricht weniger auf, hörte nicht zu, begriff