» … Du wirst dort also eine Weile wohnen können«, hörte er sie sagen, »natürlich musst du Kostgeld abgeben.«
Ein letzter Zug aus der Zigarette, dann drückte sie sie aus und sah ihn verlegen an.
Da stand er also. Von Entscheidungen überrascht, die er nicht einmal geahnt hatte. Der Mann war bereits eine Weile bei ihnen ein- und ausgegangen. Aber das waren andere vor ihm auch. Obwohl, irgendwie war der anders, hatte klare Vorstellungen und äußerte die auch deutlich. Hing nicht in Kneipen herum, auch wenn seine Mutter ihn in einer kennengelernt hatte. Sparte sein Geld, machte sich ständig Notizen, um nichts zu vergessen, was für seinen neuen Betrieb wichtig sein könnte. Rannte auf Ämter und zu Handwerkskammern, um sich Informationen zu beschaffen.
Offensichtlich hatte er seiner Mutter den Vorschlag gemacht, mitzuziehen und beim Aufbau seines Betriebs mitzuhelfen, Papierkrieg erledigen oder so was. Und sie hatte zugegriffen. Eine letzte Chance, ehe der Knochenjob sie hier zugrunde richtete. Das war ihm schon klar. Aber eben nur vom Kopf her. Vom Gefühl her fühlte er sich allein zurückgelassen.
Natürlich verdiente er sein eigenes Geld und gab es auch nur für sich aus. Aber er verdiente unregelmäßig. Ging nur arbeiten, wenn er Lust dazu hatte beziehungsweise wenn die Moneten knapp geworden waren. Es war mehr als fraglich, ob ihm überhaupt jemand eine Wohnung vermieten würde, so ohne festes Einkommen. Wahrscheinlich nicht einmal ein Zimmer. Für eine eigene Wohnung müsste er regelmäßig verdienen.
Und jetzt ?
Es würde ihm kaum etwas anderes übrigbleiben, als zu Onkel und Tante zu ziehen, zumindest erst einmal.
Später würde man weitersehen.
15 – Onkel Otto
Als Valentina ihnen mitgeteilt hatte, dass sie mit ihrem Freund oder Partner oder wie auch immer in den Harz ziehen wollte, war er doch erstaunt. Der Mann arbeitete als Schreiner und wollte einen eigenen Betrieb aufmachen. Ganz schön mutig. Sie haben ihn kurz kennen gelernt, weil seine Schwester sie eingeladen hatte, sozusagen zu einem Abschiedsessen. Es gab Rinderrouladen, dazu Rotkohl und Kartoffelbrei. Also kochen hat sie immer können, die Valentina, nicht unbedingt Sterne-Küche, aber wohlschmeckend. Von wem sie das wohl hat ? Mutter war nicht gerade eine großartige Köchin. Die war übrigens nicht da - an dem Abend. Benjamin auch nicht.
Im Nachhinein wusste er auch warum. Nämlich weil seine Schwester sie fragen wollte, ob sie ihren Sohn bei sich aufnehmen könnten, eine Zeitlang zumindest. Gefragt hat sie allerdings erst nach dem Essen, als sie sich alle satt und zufrieden zurückgelehnt hatten.
Seine Frau Laura war fast vom Stuhl gefallen, das hat ihr gar nicht gepasst, das hat er gleich gesehen und daher erst einmal abgewiegelt. Aber Familie ist Familie. Schließlich waren sie zu dem Ergebnis gekommen, dass Benjamin wenigstens für die erste Zeit zu ihnen ziehen könnte. Sie haben eine Vier-Zimmer-Wohnung, da war das kleine Zimmer frei. Früher das Arbeitszimmer, in dem seine Frau ihre Abrechnungen machte. Aber inzwischen machte die der Steuerberater.
»Gut, Valentina«, hat er gesagt, »wir machen das, wenigstens für die erste Zeit, und - das möchte ich betonen - nur, wenn er Kostgeld abgibt. So ganz umsonst können wir ihn nicht durchfüttern.«
Valentina hatte nur genickt, erleichtert, wie er annahm. Dann hat sie die alten Kristallgläser hervorgeholt ( angeblich von den Urgroßeltern, bloß, wenn das stimmte, fragte er sich, warum nur sie welche hat und er nicht ) und allen echten Williams eingeschenkt. Sie wusste, dass er den mag.
Er fragte sich, ob sie den auch hervorgeholt hätte, wenn sie abgelehnt hätten.
16 – Marion
Sie hatte ihn in dem Frisiersalon kennen gelernt, in dem sie als Auszubildende im zweiten Lehrjahr arbeitete. Seine Tante war hier die Chefin, vielleicht sogar die Besitzerin, so genau wusste man das nicht. Leonorenstraße dicht an der Kreuzung Lankwitz Kirche. Schräg gegenüber von Woolworth.
Er hatte seine Tante begleitet, weil er sich gegenüber in dem Eisenwarenladen bewerben wollte. Er sah ganz gut aus, nicht groß, vielleicht 1,80m, schlank, muskulös, er schien Sport zu machen.
Sie hatten sich kurz angesehen. Etwa eine Stunde später war er noch einmal aufgetaucht, um seiner Tante – Frau Grossmann – zu berichten. Vielleicht war das nur ein Vorwand. Da die mit einer Kundin beschäftigt war, bot Marion ihm einen Kaffee an. Er nahm die Tasse und fragte leise, wann sie Schluss machen könne. An dem Tag hatte sie frühe Schicht und konnte gegen fünf Uhr gehen. Er nickte kurz und wandte sich dann ab. Ging, ohne sich zu verabschieden.
Am Nachmittag stand er nebenan vor der Apotheke und sah konzentriert in das Schaufenster, obwohl sie nicht wusste, was es dort zu sehen gab. Sie musste ihn regelrecht anstoßen. Sie gingen in ein Café auf der Kaiser-Wilhelm-Straße. Er setzte sich und sah sie an, schien nach Worten zu suchen. Daran merkte sie, wie aufgeregt er war. Aber schließlich brachte er doch ein paar Sätze über die Lippen. Er sprach nicht viel, starrte sie nur an. Das war fast unheimlich, dieser durchdringende Blick aus seinen blauen Augen. Aber wenn er lachte, war er sympathisch, mit dieser kleinen Lücke zwischen seinen Vorderzähnen. Richtig niedlich.
Sie verabredeten sich zu einem Kinobesuch. Er überließ es ihr, einen Film auszusuchen. War ihr nur recht. Sie wollte sich sowieso „Ocean’s Twelve“ im Thalia ansehen.
17 – Benjamin
Er hat sich mit einem Mädchen verabredet ! Das erste Mal !
Sie arbeitete in dem Friseursalon seiner Tante. Er war dort gewesen, weil Tante Laura ihm gesagt hatte, dass gegenüber in dem Eisenwarenladen immer Leute gesucht würden und da könnte er doch mal nachfragen. Wahrscheinlich passte es ihnen doch nicht, dass er keiner geregelten Arbeit nachging, nicht so spießermäßig jeden Morgen aus dem Haus trabte, sondern gemütlich im Bett liegen blieb und sich noch einmal umdrehte, wenn sich die anderen schon vor Tau und Tag auf den Weg machten.
Daher war er mitgegangen, hatte sich den Salon angesehen und war danach zu Sommermeyer hinüber gegangen. An der Tür hing ein Zettel, dass sie eine Hilfskraft für das Lager suchten. Arbeit dieser Art kannte er ja schon. Er wurde zum Chef, einem Herrn Grützke, geführt, der in einem kleinen vollgestopften Büro hockte. Rundum Regale voller Ordner, Kataloge auf den Stühlen, Angebots- und Preislisten stapelweise auf dem Schreibtisch. Es sah chaotisch aus, aber vielleicht fand er sich nur so zurecht.
»Setzen Sie sich«, sagte der.
Benjamin sah sich nach einem freien Platz um, es gab keinen, da nahm er den kleinsten Stapel Kataloge von einem Stuhl, wusste nicht, wohin damit, setzte sich und behielt das etwas staubige Zeug auf den Knien.
»Ich komme wegen des Aushangs«, sagte er, »der Lagerarbeit.«
»Schon mal gemacht ?«, wurde gefragt.
»Ja«, sagte er, stolz, schon etwas vorweisen zu können. »Bei Krüger am Hafen.«
Der Chef stellte keine weiteren Fragen. Also mussten sie dringend jemanden benötigen.
»Gut«, sagte der und wühlte auf dem Schreibtisch herum, »wann können Sie anfangen ?«
»Übermorgen«, sagte er schnell, weil er noch einen freien Tag haben wollte.
»In Ordnung«, sagte Grützke.
Inzwischen hatte der einen leeren Block gefunden und notierte sich seine Angaben, Name und Adresse und so.
Dann ging er wieder in den Friseursalon. Seine Tante beriet eine Kundin, und eins der Mädchen bot ihm Kaffee an. Er trank das reichlich bittere Gebräu und fragte, wann ihre Arbeitszeit beendet wäre. Er wusste gar nicht, wo er den Mut dazu hernahm.
»Um fünf«, sagte sie leise.
Er wandte sich Tante Laura zu, berichtete kurz und verzog sich. Ganz cool. Ohne dem Mädchen noch einmal zuzunicken.
Nachmittags fuhr er wieder zur Leonorenstraße, kam aber von der anderen Seite, damit er nicht an dem Salon vorbeifahren musste und Tante Laura ihn eventuell gesehen hätte. Vom Grazer Damm hatte er es nicht weit, zehn Minuten mit dem Fahrrad.