„Ja schon, aber ein bisschen mehr Menschenkenntnis hätte mir vielleicht so manches erspart. Aber egal, Tempi passati. Die Vergangenheit kann man nicht aus der Welt schaffen. Schauen wir uns lieber mal an, was das alles bedeutet oder bedeuten könnte.“
Mit diesen Worten stand Bella auf und ging nach nebenan zu ihrem Schreibtisch. Sie suchte dort herum und kam mit einer großen Pappe und einem Filzstift zurück.
„Lass uns mal die Fragen aufschreiben, die offen sind und geklärt werden müssen. Also, mir ist sehr unklar, was die Frau aus deinem Auftrag mit der ganzen Sache zu tun hat? Ist das ein Zufall, dass sie überwacht werden soll? Ist es Zufall, dass du mit diesem Auftrag bedacht worden bist? Wer hat dich überhaupt beauftragt?“
Cara schluckte.
Du wirst es nicht glauben, aber es war ein Typ aus der Finanzverwaltung, ein Herr Taggert. Ich weiß nicht so genau, was er dort macht, aber die Frau ist seine Sekretärin und hat sich wohl einmal zu oft krankgemeldet.“
„Das stinkt doch zum Himmel“, meinte Bella und ging an ihr iPad und fing an, den Namen Taggert und Stadtverwaltung zu googeln. „Da haben wir ihn doch schon. Er sitzt doch tatsächlich im Finanzamt! Was er dort genau macht, kann ich so nicht sagen. Auf jeden Fall muss er neu sein, denn damals, als ich mit der Sache noch befasst war, gab es diesen Namen noch nicht.“
Bella notierte:
• Warum wurde die Überwachung der Sekretärin in Auftrag gegeben?
• Warum wurde Cara mit dieser Überwachung beauftragt?
• Was hat die Sekretärin mit Jost bzw. mit der Sache von damals zu tun?
• Wie kommt sie an das Foto von Jost bzw. woher hat der Spielhallenmann dieses Foto?
„So, diese Fragen sind zu klären. Was soll ich machen?“, fragte Bella und schaute erwartungsvoll zu Cara.
Ein lautes Knurren unterbrach die eingetretene Stille; ein Rumpeln von draußen und dann helles Hundegebell beantworteten zumindest die letzte von Bellas Fragen.
„Jimmie! Hallo Süße!“ rief Cara und stürzte sich zu einer Knuddelrunde auf die Hündin, die mit Herrchen im Schlepptau in die Küche gestürmt war. Bella streichelte Jimmie und gleich auch noch, vorsichtiger, Cara den Kopf, denn beide tobten auf gleicher Höhe auf dem Sisalteppich zwischen Essecke und Küchenzeile herum. Bella gab Erlinger einen Begrüßungskuss und fragte ihn aus, während sie gleichzeitig, Hund und Mensch am Boden umschiffend, Käse, Tomaten, Oliven und Schinken vom Kühlschrank an den Tisch beförderte und einen Korb voll Brotscheiben, Teller und Besteck mehr dazu warf als formvollendet einzudecken.
„Erlinger, jetzt erzählt doch mal. Ich mein, setz dich, iss was und berichte. Und du, Cara, zu Tische. Du isst jetzt sofort auch etwas. Die Geräusche aus deiner Magengrube machen einem ja Angst!“
Sie füllte noch Jimmies Fressnapf aus einer angebrochenen Dose aus dem Kühlschrank, was jedoch angesichts der reizvolleren Angebote auf dem Küchentisch nicht beachtet wurde.
„Gib ihr nicht wieder so viel ab, Cara. Ich beobachte dich“, warnte Bella und setzte sich ans schmale Tischende zwischen Erlinger auf der Küchenbank und Cara, die nun wieder an ihrem Platz zu Bellas Linken saß. Ein paar Minuten lang herrschte konzentriertes Schweigen und Geschäftigkeit, während alle drei sich großzügig belegte Brote zubereiteten. Essen war allen Anwesenden ein heiliger Akt – da standen die Menschen im Raum Jimmie in nichts nach. Nachdem Erlinger als erster herzhaft von seinem Kunstwerk abgebissen und mit einem großen Schluck Wasser heruntergespült hatte, berichtete er von seinem Vormittag mit Hennes.
„Sieht alles schlimmer aus, als es ist. Hennes hat herumtelefoniert und kann gebrauchte Ersatzteile bekommen. Noch ‚ein paar Beulen rausgekloppt‘ – Zitat Hennes – ‚und die Klapperkiste kann wieder lustig losscheppern.‘ Er braucht aber ein paar Tage. Spätestens Freitag ist er fertig, sagt er.“ Erlinger gab Jimmie ein Stück Gorgonzola und blickte recht zufrieden mit sich wirkend in die Runde.
„Das ist ja wunderbar! Gut gemacht, Lieber“, lobte Bella und klopfte ihm auf die Schulter. Cara hingegen schwankte zwischen Freude und Ratlosigkeit. Auch wenige Tage ohne Gefährt waren eine Katastrophe. Wie sollte sie da irgendetwas ausrichten? Doch sie lächelte Erlinger dankbar an.
„Ja, das ist wirklich toll! Ich war sicher, dass es ein Totalschaden ist und ich mir einen neuen Wagen kaufen muss. Nur zwei Tage, sagt dein Bekannter? Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll! Für gestern Abend und heute. Du hast bestimmt Besseres zu tun, als dich die ganze Zeit mit meinen Autoproblemen rumzuschlagen.“
Erlinger biss wieder in sein Brot, kaute bedächtig, schluckte und meinte: „Nö, eigentlich nicht. Ich habe gerade nicht viel um die Ohren. Dachte ich jedenfalls bis gestern Abend.“ Er sah zum Foto auf dem Zeitungsberg rüber, der die andere Hälfte des großen Tisches bedeckte. „Was ist eigentlich los, Cara? Bella? Habt ihr euch schon beraten und ist irgendetwas dabei rausgekommen?“
Nachdem abgedeckt und drei Mal Espresso zubereitet worden war, beugten sich die drei über Bellas Fragenkatalog. Cara und Bella hatten Erlinger beim Essen auf den aktuellen Stand gebracht, und auch er konnte sich zunächst keinen Reim aus der „Gemengelage“, wie er das Rätsel vor ihnen bezeichnete, machen.
„Die wichtigste Frage hast du aber vergessen aufzuschreiben, Bella“, kommentierte er die Liste auf der Hemdenpappe. Die beiden Frauen blickten ihn erwartungsvoll an. Er seufzte.
„Warum steht da nicht: Wann rufen wir die Polizei an und melden, dass Hansen noch lebt?! Ihr könnt doch nicht allen Ernstes vergessen haben, daran zu denken.“
Cara vergrub beschämt ihr Gesicht in den Händen. Doch, hatte sie! Der Schlag an die Stirn war eben doch nicht ohne Folgen geblieben. Bella hingegen schien nicht sehr beeindruckt. Sie zog das Smartphone aus der Tasche ihrer langen Strickjacke, legte es mit angeschaltetem Display auf den Tisch und zeigte auf das Email-Symbol. Drei neue Nachrichten.
„Ach so“, meinte Erlinger. „Heute Morgen, als du mit Jimmie draußen warst?“
Cara begriff nichts und kraulte verwirrt Jimmies warmen Kopf, der auf ihrem Oberschenkel ruhte. Ehepaare brauchten offenbar nicht viel Worte, sondern lasen einfach Gedanken. Sie blickte von Erlinger zu Bella, dann in Jimmies Augen – eins blau, ein braun. Jimmie grinste scheinbar allwissend zurück. Bella nahm das Smartphone und tippte auf dem Display herum.
„Ich habe Witzig um halb sieben angerufen. Seine private Nummer hatte ich ja für Notfälle noch. Ah, er kommt gleich. Um 14 Uhr ist er da, schreibt er.“
Cara verstand endlich, worum es ging. Es war jetzt klar, dass Bella nach ihrer vermutlich schlaflosen Nacht den Kriminalbeamten Paul Witzig verständig hatte. Witzig hatte damals die Ermittlungen nach dem Anschlag auf Bella geleitet. Er war ein anständiger, intelligenter und unermüdlich arbeitender Kerl, den zumindest Bella und Erlinger damals schätzen gelernt hatten. Im Wettstreit mit Josts Intellekt und Gewissenlosigkeit hatte er einfach keine faire Chance gehabt.
Cara hätte sich am liebsten an die Stirn geschlagen. Das ließ sie besser sein.
„Witzig kommt her?“, jammerte sie. „Dann bin ich aber weg! Ich zieh mich an und mache mich auf den Weg.“ Sie startete in Richtung Treppe, kehrte dann aber geknickt an den Tisch zurück. „Ach, geht ja nicht, ohne Auto.“
Bella stand auf und legte ihr nicht allzu zärtlich die Hände auf die Schultern. „Hallo? Kannst du vielleicht mal Prioritäten setzen? Hier geht’s um einen entlaufenen Irren, wenn du dich bitte erinnerst. Du meinst es sehr gut, und ich bin für deine Hilfe unendlich dankbar, aber wir können doch die Polizei nicht heraushalten und Jost ganz allein einfangen!“
Cara verrenkte den Kopf und sah in Bellas aufgebrachtes Gesicht. Sie ließ den Kopf auf die Unterarme auf der Tischplatte sinken und murmelte ein dumpfes „Tut mir leid. Du hast ja recht.“
Sie setzte sich wieder