Sie hatte nur noch gewusst, dass sie Jost verdächtigt hatte, in die geradezu unglaubliche Bestechungsaffäre in der Steuerbehörde irgendwann selbst verwickelt zu sein. Beiden waren Ungereimtheiten in der eigenen Dienststelle aufgefallen, und nach einer Weile waren sie sicher gewesen, dass mehrere hochrangige Mitglieder der Verwaltung auf noch unbekannte Art in die eigene Tasche wirtschafteten. Ihnen fehlten zu ihrer wachsenden Frustration jedoch eindeutige Beweise, wie Bella damals dachte. Auch konnten sie niemanden im Amt zu Rate ziehen, solange sie nicht wussten, um wen oder was es genau ging. Dann kam der schreckliche Moment, an dem sie entdeckte, dass Jost sehr viel mehr wusste und auch hätte nachweisen können, sie aber nicht informiert hatte. Dies – und seine unerklärliche Entscheidung, nicht mehr mit ihr zusammenzuarbeiten – ließ nur den Schluss zu, dass er sich selbst einen Vorteil verschaffen wollte, anstatt die Machenschaften aufzudecken.
Ihr wurde plötzlich klar, wer hinter den Gerüchten und Diffamierungen stecken musste, die seit einiger Zeit hinter ihrem Rücken kursierten und sie mehr und mehr isolierten und belasteten. Sie wusste noch, dass sie einen heftigen Streit in ihrem Büro und eine noch schlimmere Auseinandersetzung in der Tiefgarage geführt hatten, bei der Jost ohne Umschweife zugegeben hatte, dass er sich sein Schweigen hatte teuer bezahlen lassen. Sein höhnisches „Bin ich bescheuert und nehme mir nicht meinen Teil der fetten Beute?!“ klang ihr noch in den Ohren. Da war er wieder, dieser missgünstige, gierige Zug, den sie nie richtig hatte wahrhaben wollen. Aber entweder war er nicht weiter ins Detail gegangen, was die genaue Art des Betrugs und die Namen der Beteiligten anging, oder diese Punkte waren durch die Kopfverletzung aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden. Sie konnte sich zu ihrer Verzweiflung auch all die Jahre danach nicht an alles Gesagte erinnern.
Kapitel 10: Kompetenzen
Der drahtigschlanke Erlinger, dem Naschwerk ebenso zugetan wie der kräftige Witzig, kramte gerade im Küchenschrank nach Keksen, als Bella mit Jimmie und Cara geräuschvoll ins Haus zurückkehrten. Witzig beschloss, dass er nicht weiter um den heißen Brei herumreden durfte.
Als alle vier Menschen wieder um den Tisch versammelt saßen und Jimmie mit ihrem zuvor verschmähten Mittagessen beschäftigt war, sah er ernst in die Runde, atmete tief durch und erklärte: „So, dann mache ich mich mal wieder auf den Weg und gebe die Meldung in der Dienststelle durch. Das Foto muss ich natürlich mitnehmen, damit es auf Echtheit untersucht wird.“ Es blickte Cara streng an. „Ich überlege mir im Auto eine plausible Erklärung, wie Sie an das Beweisstück gelangt sind. Sie haben es in dem Imbiss ja wohl versehentlich eingesteckt.“
Cara kochte innerlich, hielt sich aber zurück. Da wollte er sie doch wieder ausbooten, und sie konnte nichts dagegen tun! Als schnöde Privatdetektivin hatte sie natürlich kein Recht gehabt, das Foto sicherzustellen. Bella und Erlinger sahen Witzig verblüfft an.
„Aber wir müssen doch besprechen, wie wir weiter vorgehen!“, protestierte Bella.
Witzig hievte seinen massigen Körper vom Küchenstuhl und schüttelte bedauernd den Kopf.
„Bella, das liegt leider nicht allein in deiner Hand. Wenn Hansen noch lebt, muss die Staatsanwaltschaft Bescheid bekommen und wir müssen wieder nach ihm fahnden.” Er warf einen besorgten Blick in die Runde der unternehmungslustigen Freunde. „Wenn ihr Informationen zusammentragen und euch die Sache gemeinsam durch den Kopf gehen lassen wollt, ist es etwas anderes und wäre mir sogar eine große Hilfe. Aber den professionellen Teil, sozusagen, müsst ihr uns überlassen.
Das ist keine Schnitzeljagd für Laien“, fügte er noch in Caras Richtung hinzu. „Dafür ist Hansen zu gefährlich und zu gerissen obendrein.
Cara gab ein unschönes Schnauben von sich und blickte mit rotem Kopf zu Witzig hoch.
„Na, das hat man ja auch gemerkt! Toll, wie ihr Experten ihn das erste Mal gefasst habt! Ach nein, habt ihr ja gar nicht, fällt mir wieder ein. Und dann konnten Sie noch nicht mal eindeutig feststellen, ob er wirklich der im Hafen war und haben sich mit 90 Prozent zufriedengegeben und ihn für tot erklärt, damit Ruhe ist. Fantastische Leistung!“ Sie stampfte wütend aus dem Zimmer und die Treppe hoch. Eine Tür schlug krachend ins Schloss.
Witzig stand etwas betreten herum, überlegte, ob er noch etwas sagen soll, um sich dann umzudrehen und mit einem flüchtigen Gruß zu verschwinden.
Als Witzig abgefahren war, stand Bella einige Minuten still am Küchenfenster und dachte nach. Entschlossen drehte sie sich zu Erlinger auf seiner Küchenbank.
„Wenn Witzig Jost alleine jagen will, dann soll er das tun. Umso besser! Aber die Behörde ist mein altes Revier. Da kenne ich mich besser aus als er! Wenn ich auch nicht mehr da arbeite und lange nichts mehr mit allem zu tun haben wollte, jetzt werden wir wieder anfangen zu schnüffeln und aufdecken, wer sich wie die Taschen vollstopft!“
Erlinger nickte zustimmend und aß noch einen Keks. Bella setzte sich zu ihm.
„Außerdem habe ich mich entschlossen, jetzt wirklich zur Hypnose zu gehen. Ich wollte das eine lange Zeitlang nicht, ich weiß. Aber dieser Traum, den ich immer wieder habe, in dem ich Jost sehe, wie er an einer Tür lauscht und jemandem beim Telefonieren zuhört… Das muss etwas bedeuten und ich will mich endlich wieder daran erinnern, was es war.“
Erlinger beugte sich zu ihr rüber und legte seine Hand auf ihre Hand und meinte eindringlich: „Bella, überleg dir das gut. Ich verstehe dich und finde es auch richtig, dass endlich diese ganze Geschichte aufgeklärt wird und du dann hoffentlich deine Ruhe finden kannst. Aber das Ganze ist nicht ungefährlich, du bist schon einmal schwer verletzt worden, und ich möchte dich nicht verlieren. Du weißt, ich möchte mit dir alt werden, auch wenn es keine Eile hat.“
Das war ein gängiger Scherz zwischen ihnen und eine entsprechende Ansichtskarte hing, mit einem Magnet versehen, zur gefälligen Erinnerung an ihrem Küchenschrank.
Bella grinste flüchtig, reagierte aber auch ernst auf diese Vorhaltung: „Ja, ich weiß, was du meinst. Aber irgendwie nagt diese ganze ungeklärte Geschichte immer noch an mir. Auch wenn man weiß, dass an den Gerüchten damals nichts dran war, trotzdem habe ich immer noch das Gefühl, damals geflüchtet zu sein, die Sache nicht zu Ende gebracht zu haben. Und irgendwie kommt es mir so vor, als wäre das hier wie ein Fingerzeig, alles nochmal vorzuholen. Und wenn ich mit Cara und dir in dieser Sache zusammenarbeite, dann kann doch eigentlich gar nichts schiefgehen, oder?“
Erlinger wiegte bedenklich seinen Kopf und machte deutlich, dass er sich Sorgen machte. Und Bella hatte im Laufe ihrer Beziehung mit ihm gelernt, dass seine Bedenken, auch wenn sie oft gereizt und abwehrend darauf reagierte, doch meistens ihre Berechtigung hatten.
In diesem Moment kam Cara wieder zur Tür herein, schaute sich argwöhnisch um und fragte: „Ist der Blödmann weg? Der hatte mir heute gerade noch gefehlt! Der immer mit seinen Vorschriften und Gesetzen und Verfahrensregeln. Der geht mir sowas von auf die Nerven.“
Darauf meinte Erlinger zu Bella: „Siehst du, genau das meine ich! Ihr beide, ihr seid so ein Bündel von Energie und Übermut, und oft vergesst ihr, euren Verstand einzuschalten. Natürlich hat Witzig recht damit, dass Jost wegen Mordversuchs verfolgt werden muss und dass die Staatsanwaltschaft davon in Kenntnis gesetzt werden muss. Wir sind doch hier nicht im Wilden Westen, wo jeder nach Lust und Laune seine eigene Rechtsauffassung durchsetzen kann und Ermittlungen in Strafsachen auf eigene Faust durchführen kann.“
Cara und Bella schauten einander an, und es war nicht klar auszumachen, was in ihren Köpfen ablief.
Erlinger