Sie blieben stehen.
Wilfried sah sie an. "Vielleicht sagst du mir jetzt, was du dort gesucht hast, in jener Nacht", sagte er dann.
Warum eigentlich nicht?, dachte Susanne. Sie fühlte sich Wilfried so nahe wie selten zuvor. Wenn ich mich jetzt ihm nicht anvertraue, dann finde ich vielleicht niemals den Mut!, sorgte sich die junge Baroness. Und sollte ihre Verbindung mit Wilfried von Eichenbach etwa auf einem Fundament aus Lügen aufgebaut werden.
Du musst es ihm sagen, sagte sie zu sich selbst.
"Ich muss dir ein Geständnis machen", brachte sie heraus.
Er hob die Augenbrauen. Ein sympathisches, wohlwollendes Lächeln spielte um seine Lippen, während er sie verliebt ansah. "So dramatisch?"
"Ja."
Und dann berichtete sie ihm alles. Von dem Gespräch, das sie zwischen Nadine und Johann belauscht hatte und über den Brief, den ihr das Zimmermädchen zukommen ließ bis hin zu den dramatischen Ereignissen im Turm.
Wilfried hörte ruhig zu.
Er unterbrach sie nicht ein einziges Mal.
"Ich weiß nicht, ob es wirklich eine gute Idee war, dir das alles zu sagen," meinte sie schließlich. "Was musst du nun von mir denken? Dass das Misstrauen mich innerlich zerfrisst und ich dir nicht vertraue..." Sie seufzte.
"Aber das ist doch nur zu verständlich", sagte Wilfried. "Nach all dem, was passiert ist, wäre es ein Wunder, wenn es anders wäre..."
"Ich weiß nicht..."
"Hast du Nadine zur Rede gestellt?"
"Sicherlich. Sie hat natürlich abgestritten, diesen Brief geschrieben zu haben. Und ich habe ihn dort oben im Turm verloren, so dass ich dir jetzt nicht einmal mehr einen Beweis liefern kann..."
"Ich habe keinen Grund, dir nicht zu glauben", erklärte er.
"Und vielleicht können wir bei Tag mal im Turm nachsehen, ob er sich dort irgendwo findet!"
"Nadine hatte alle Zeit der Welt, um ihn verschwinden zu lassen."
"Das ist natürlich wahr..."
"Wilfried..."
Sie sah ihn an. Er hob die Augenbrauen. Sie zögerte, ehe sie weitersprach.
"Ja?", fragte er.
"Gehst du mit mir in die Verliese unter dem Schloss."
"Jetzt?", fragte Wilfried. Er machte einen ziemlich erstaunten Eindruck. Susanne nickte.
"Ja, jetzt. Ich habe lange über das nachgedacht, was du mir während unseres Ausrittes gesagt hast. Ich glaube, wenn ich dort unten bin und sehe, dass dort nichts ist, was irgendetwas mit Lisa Reindorf zu tun hat, nichts von den Dingen, die ich mir in meinen Alpträumen ausmale, dann hört dieser Spuk endlich auf und ich muss nicht dauernd darüber nachdenken, ob mein zukünftiger Mann vielleicht..."
"Ein Mörder ist? Du kannst es ruhig aussprechen."
"Verstehe mich nicht falsch, Wilfried. Ich möchte, dass dieser Schatten, der sich über mein Lebensglück gelegt hat, endlich verschwindet... und ich weiß nicht, wann ich je wieder den Mut finden würde, dort hinunterzusteigen... wenn nicht jetzt!"
Wilfried nickte.
"Also gut", meinte er. "Ich hatte es dir angeboten und ich bin jemand, der zu seinem Wort steht. Auch wenn es zu nachtschlafender Zeit von ihm eingefordert wird..."
Aus den Augenwinkeln heraus sah Susanne eine Gestalt. Sie schrak zusammen, denn sie hatte diese Gestalt nicht kommen hören. Vielleicht hatte sie schon eine ganze Zeit im Schatten der hohen Sträucher gestanden, die eine kleine Grünfläche mit Springbrunnen inmitten des Schlosshofs umsäumten.
"Christiane!", entfuhr es Wilfried, der die Gestalt auch gesehen hatte.
Christiane von Buchenberg-Selm trat aus dem Schatten. Im Schein der Schlossbeleuchtung wirkte ihr Teint blass.
"Ich wollte niemanden erschrecken", sagte sie.
Susanne atmete tief durch.
"Ich hoffe, es geht Ihnen inzwischen etwas besser!"
"Es geht so. Der Arzt hat mir etwas Bettruhe verschrieben, aber wenn ich mich immer an das gehalten hätte, was Ärzte mir geraten haben..." Christiane von Buchenberg-Selm machte eine wegwerfende Handbewegung. Dann fuhr sie nach kurzer Pause fort: "Ich wollte etwas an die frische Luft und da sah ich euch beide ... Ich möchte euch zu eurer Verlobung gratulieren."
"Danke", sagte Wilfried etwas reserviert.
Dann drehte Christiane sich um und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Was mag sie nur im Schilde führen?, dachte Susanne von Radvanyi dabei.
21
"Es ist also wirklich dein Ernst?", vergewisserte sich Wilfried von Eichenbach noch einmal. "Du willst hinab in die alten Verliese und Gänge unter dem Schloss?"
"Ja", flüsterte Susanne.
Wilfried hatte inzwischen für sie beide zwei starke Taschenlampen besorgt.
In der Eingangshalle gab es eine verschlossene Tür, die hinunter in die unterirdischen Gänge führte. Wilfried schloss diese Tür auf. Sie stiegen eine schmale Wendeltreppe hinab. Dann erreichten sie einen gewölbeartigen Gang, der sich nach einigen Metern schließlich verzweigte.
"Du kennst dich hier unten aus?", fragte Susanne.
"Ein wenig", erwiderte Wilfried. "Als Junge bin ich manchmal hier unten herumgestromert, obwohl mein Vater mir das eigentlich strikt verboten hatte, weil es natürlich viel zu gefährlich war... aber das war mir gleichgültig." Wilfried zuckte die Achseln. "Heute bin ich natürlich ein bisschen klüger - hoffe ich zumindest!"
"Wie begraben fühlt man sich hier unten!", meinte die junge Baroness ergriffen, während sich der Gang erneut verzweigte.
Der feuchte Modergeruch stieg ihr in die Nase.
"Vor sehr langer Zeit, hat man hier unten Gefangene eingesperrt. Sie mögen sich wirklich lebendig begraben gefühlt haben", sagte Wilfried. "Hier unten gibt es ein regelrechtes Labyrinth aus verschiedenen Gängen. In der Bibliothek gibt es sogar einen Plan davon, der aber nur die Hälfte stimmt. Ursprünglich gab es von hier unten aus wohl auch mal einen Fluchttunnel, der im Falle einer Belagerung benutzt werden konnte. Aber der ist in späteren, friedlicheren Zeiten zugemauert worden..."
Wie viel er über die Katakomben weiß, ging es ihr durch den Kopf. Und auf einmal war die Leichtigkeit, die sie noch vor kurzem empfunden hatte, wie weggeblasen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit. Und insgeheim bereute sie bereits, hier her gekommen zu sein....
Was dachtest du, hier zu finden?, fragte sie sich selbst.
Du bist von einer fixen Idee besessen. Sie ist es, die dein Glück zu zerstören droht, Susanne! Sie - und nichts anderes!
Dieser Gedanke hämmerte geradezu in ihrem Kopf. Sie konnte nichts dagegen tun.
Währenddessen wanderten die Lichtkegel ihrer Lampen an den kahlen Steinwänden entlang, die vor vielen Jahrhunderten errichtet worden waren.
Dann hielt Susanne plötzlich inne.
Blankes Entsetzen packte sie, als der Schein ihrer Lampe einen Armreif beleuchtete, der auf dem feuchten Boden lag.
Das Schmuckstück einer Frau!, ging es Susanne schaudernd durch den Kopf. Sie bückte sich und hob den Reif auf.
"Was hast du da?", fragte Wilfried.
Susanne beleuchtete die