Literaturbeilage Jetzt drehen Sie mir aber das Wort im Mund um. Dieses »etwas machen« war doch nicht ürgendwie pornografisch oder so gemeint.
Wolf Haas Es stimmt natürlich, sie hat ja wirklich nicht viel gemacht. Kuss auf die Wange und ciao. Bevor sie gegangen ist, hat sie ihm allerdings noch mit einem verlegenen Lächeln den Lippenstift weggewischt.
Literaturbeilage »Drei sehr schnelle Wischbewegungen von außen nach innen, also von Ohr nach Nase, parallel zur gedachten Verlängerung meiner linken Augenbraue«, erzählt uns Herr Kowalski.
Wolf Haas Aber er betont, dass sie damit nicht den Kuss weggewischt hat, sondern nur den Lippenstift.
Literaturbeilage Den Kuss habe sie sogar einmassiert.
Wolf Haas (lacht) Ja, das ist eigentlich meine Lieblingsstelle im ganzen Buch. Dieses Lippenstiftweggewischtkriegen, das hat schon was. Das kennt man als Mann so gut. Das hat schon was sehr sehr – Ambivalentes. Diese Mischung aus Zärtlichkeit und Herablassung.
Literaturbeilage Da bin ich ja richtig froh, dass ich keinen Lippenstift trage. Er sagt auch noch: Schnelle Wischbewegungen, das klinge fast aggressiv.
Wolf Haas Diesen Verdacht äußert er aber nur, um ihn sofort zu entkräften und von sich zu weisen. Annis Geste sei das Gegenteil von aggressiv gewesen.
Literaturbeilage Er sagt: »Bei der schnellen Wischbewegung kommt es immer auf das Wie an! Und es kommt immer auf das Wer an! Und es kommt immer auf das verlegene Lachen an! Und es kommt immer auf das Morgen besuch ich dich wieder an.«
Wolf Haas Ja, und dann beginnt eigentlich die Geschichte. Der Kuss war ja nur so eine Art Vorspann.
Literaturbeilage Und das bringt mich jetzt endlich zu meinem Anfang.
Wolf Haas Also das hat jetzt noch gar nicht gegolten?
Literaturbeilage Noch nicht so ganz. Ich möchte eigentlich mit einer anderen Frage beginnen. Wir wissen, wie der Roman beginnt. Was mich interessieren würde: Wie hat für Sie persönlich die ganze Geschichte begonnen? Wann waren Sie zum ersten Mal überhaupt konfrontiert damit? Wie sind Sie auf die Geschichte gestoßen?
Wolf Haas Das ist ganz einfach zu beantworten. Ich habe Herrn Kowalski zum ersten Mal bei seinem Fernsehauftritt gesehen.
Literaturbeilage Also bevor Sie ürgendwas von Anni wussten.
Wolf Haas Weder von Anni noch von ihm wusste ich irgendwas. Es war einfach nur normales Fernsehen. Ich hab ja keinen Fernsehapparat, weil ich wirklich zur Fernsehsucht neige. Wenn ich einen hab, schau ich jeden Blödsinn. Aber das Verschenken des Apparats hat auch nur dazu geführt, dass ich mich bei meinen Freunden zum Fernsehen einlade. Und wenn ich bei meiner Freundin bin, sitze ich auch dauernd vorm Fernseher. Dann gibt’s natürlich Streit, weil sie nicht einsieht, dass ich mir Sachen wie Wetten, dass …? anschau.
Literaturbeilage Das tun Sie tatsächlich?
Wolf Haas Ja, ich muss zugeben, dass mir das wirklich großes Vergnügen bereitet. Ich schau das einfach gern.
Literaturbeilage Und bei Wetten, dass …? ist dann dieser Kandidat aufgetreten, der vor fünfzehn Jahren zuletzt in seinem östreichischen Urlaubsort war.
Wolf Haas »Sein« Urlaubsort ist etwas übertrieben. Seine Eltern sind da eben jedes Jahr hingefahren. Damals war er noch ein Kind. Also der ist eigentlich von seiner Geburt an Sommer für Sommer da hingekarrt worden. Bis er fünfzehn war.
Literaturbeilage Vor fünfzehn Jahren und mit fünfzehn Jahren war er zuletzt dort.
Wolf Haas Ja richtig. Ich hab schon überlegt, sein Alter etwas zu verändern, damit das nicht irgendwie verwirrend wird. Vor fünfzehn Jahren und mit fünfzehn Jahren. Er war ja zu dem Zeitpunkt, wo er als Wettkandidat im Fernsehen aufgetreten ist, dreißig. Das wusste ich da natürlich alles noch nicht so genau.
Literaturbeilage Sie waren gleich von ihm fasziniert?
Wolf Haas Nein, von ihm eigentlich gar nicht. Nur von der Wette. Er war ja als Person eher unscheinbar. Also wirklich das Gegenteil von einem faszinierenden oder charismatischen Typen oder so. Ein eher blasser Typ, das muss man schon ehrlich sagen!
Literaturbeilage Blass ist er im wahrsten Sinne des Wortes.
Wolf Haas Ja, ein bisschen farblos. Man möchte fast sagen: Nicht einmal rote Haare hat er. Seinem Hauttyp entsprechend könnte er die nämlich durchaus haben.
Literaturbeilage Jetzt sind Sie aber sehr böse.
Wolf Haas Ich mein’s nicht böse. Mir gefällt das Blasse ja. Im Fernsehen hat man das gar nicht so gesehen, wegen der Schminke. Aber komischerweise hat man’s trotzdem gesehen irgendwie.
Literaturbeilage Seine Ausstrahlung.
Wolf Haas Seine ganze Körpersprache ist so. Einerseits wirkt er viel älter als dreißig. Und gleichzeitig auch irgendwie kindlich. Vielleicht hat das sogar den Effekt der Wette verstärkt. Bei seiner Wette hatte ich gleich den Eindruck, dass eine irre Geschichte dahinterstecken muss.
Literaturbeilage Es kam Ihnen gleich verdächtig vor, dass jemand das Wetter in seinem Urlaubsort studiert?
Wolf Haas Was heißt das Wetter in seinem Urlaubsort! Der Typ lebt im Ruhrgebiet und weiß von jedem einzelnen Tag der vergangenen fünfzehn Jahre das Wetter in einem österreichischen Bergdorf. Obwohl er in all diesen Jahren nicht mehr dort gewesen ist.
Literaturbeilage Ja gut, aber in dieser Sendung gibt es ja viele obskure Wetten.
Wolf Haas Das stimmt schon. Ich hätte auch keinen Verdacht geschöpft, wenn er von seiner eigenen Gegend das Wetter der vergangenen fünfzehn Jahre gewusst hätte. Wobei ich sagen muss, dass ich das schon grundsätzlich ganz wunderbar gefunden habe. Dass sich einer mit dem Wetter der Vergangenheit beschäftigt. Gerade das Wetter ist ja so ein Thema, wo uns immer nur zu interessieren hat, wie es morgen wird.
Literaturbeilage Immer tüchtig zukunftsorientiert.
Wolf Haas Aber wie war das Wetter gestern, oder vor fünfzehn Jahren? Das interessiert im Grunde kein Schwein. Außer um es mit der Gegenwart zu vergleichen. Also für Apokalypse-Freaks, dass alles untergeht und so. Oder es ist im Zusammenhang mit einem historischen Ereignis von Belang, die Temperaturen bei irgendeinem Feldzug oder die Schweißflecken, als Kennedy erschossen wurde.
Literaturbeilage Trotzdem. Die Leidenschaft für das vergangene Wetter allein war es noch nicht, was Ihr Interesse geweckt hat.
Wolf Haas Das allein hätte mich vielleicht begeistert. Aber eben nicht länger als – ein paar Minuten vielleicht. Eventuell solange die Sendung dauert, oder maximal bis zum nächsten Tag, wo man noch einmal mit wem darüber reden kann.
Literaturbeilage Entscheidend für Sie war, dass es ein östreichischer Urlaubsort war?
Wolf Haas Nein, das war mir völlig egal! Im Gegenteil. Diese Österreichthematik hängt mir schon von Wien bis Bregenz zum Hals heraus.
Literaturbeilage Wo liegt Bregenz?
Wolf Haas In der Schweiz.
Literaturbeilage Also was war dann für Sie das Entscheidende?
Wolf Haas Mich hat fasziniert, dass es der Urlaubsort seiner Kindheit war. Dazu muss ich sagen, dass ich selbst aus so einem Touristenkaff stamme. Ich kenne das so gut. Diese Liebesgeschichten, wenn man es so nennen darf, die sich zwischen Touristen und Einheimischen anbahnen. Besonders wenn jemand jedes Jahr in denselben Ort kommt. Die regelmäßige Wiederholung. Jeden Sommer ein paar Wochen. Das hat was Erotisches, das Warten, das Sehnen, das Träumen. Bei Kindern kommen dann noch die Entwicklungssprünge dazu, wenn man sich immer in so großen Abständen sieht.
Literaturbeilage Haben Sie gleich geahnt, dass eine Liebesgeschichte dahintersteckt? Bei der Sendung hat er darüber ja kein Wort verloren.
Wolf Haas Ich habe es gehofft, sagen wir so.
Literaturbeilage Haben