Für insgesamt fünf Tage bleibe ich auf der Akutstation. Ich esse tatsächlich wieder – Appetit auf Rezept sozusagen –, komme allmählich zur Ruhe. Das Weinen wird erträglicher, hört aber nie ganz auf. Ich versuche zu lesen, doch kann mich nicht konzentrieren, blättere Seite um Seite um, ohne mich zu erinnern, was ich überhaupt gelesen habe. Die Tage vergehen, sind ohne Höhen, ohne Tiefen, verschwinden dank der Tabletten, die mich ein wenig von der Realität abschirmen, hinter einer Nebelwand aus Ereignislosigkeit. Besuche und Besucher vergesse ich wieder, kann mich an keine Gespräche aus jenen Tagen mehr erinnern.
„Sie sehen ja schon viel besser aus, Frau Ilkner!“ Der hoffnungsvolle Tonfall von Dr. Sievers, mit dem ich mein erstes Gespräch am Aufnahmetag hatte, holt mich ein wenig in die Realität zurück. Er habe eine gute Nachricht für mich, wendet er sich betont munter in meine Richtung. „Wir können Ihnen einen Therapieplatz auf einer offenen Psychotherapiestation anbieten. Allerdings sollten Sie sich auf eine längere
Behandlungsdauer einrichten.“ Wie lange das sein kann, dazu wollte er mir im Moment nichts sagen.
Ich bin einverstanden. So kann ich zumindest diese raue geschlossene Station endlich verlassen. Auf Dauer ist das kein Vergnügen, seine Zeit mit lauten, extrovertierten Borderline-Patientinnen, Ex-Junkies und psychotischen Menschen zu verbringen, wenn man sich selbst nur nach Ruhe sehnt und nur weinen kann, wenn für alles andere die Kraft fehlt, wenn es keinen erkennbaren Sinn mehr gibt. Das Essen hier wird übrigens tatsächlich in Plastikgeschirr ausgegeben und auch das Besteck ist aus Kunststoff. Beängstigend.
Die Verlegung auf eine Psychotherapiestation klingt durchaus verlockend. Vielleicht werde ich ja dort endlich beginnen zu verstehen, was mir widerfahren ist, warum ich überhaupt so krank geworden bin. Und möglicherweise finde ich ja sogar einen Weg aus der Krise. Möglicherweise …
Dass ich noch lange nicht in der körperlichen und psychischen Verfassung war, irgendetwas zu verstehen, zu analysieren, zu verarbeiten, geschweige denn zu verändern, konnte ich zum damaligen Zeitpunkt natürlich noch nicht ahnen. Alte Muster griffen wie die langen Schatten der Vergangenheit nach mir, wollten mich aufs Neue in das Hamsterrad stecken: krank, hingefallen, okay, kann passieren. Jetzt aber wieder zack zack, aufstehen, weitermachen. Es gibt viel zu tun, zu verstehen und wieder aufzubauen. Doch mein kranker Körper und meine verletzte Seele funktionieren leider nicht so. Das zu erkennen, würde mich noch viel Kraft, viel Zeit, viele Tränen und noch mehr zerstörte Illusionen kosten.
Doch ich bin zumindest ein wenig zuversichtlich und offenbar bereit für den nächsten Schritt – neugierig und vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln. Aber die neue Station ist schlichtweg der blanke Horror. Die Verlegung bedeutet die Unterbringung in einem Dreibettzimmer (hallo, ich bin Privatpatientin!), in einem alten düsteren Kliniktrakt. Gemeinschaftsduschen und übelriechende WCs auf dem Gang ekeln mich an. Alles ist laut, alles ist hektisch, merkwürdige Patienten um mich herum, wohin ich auch gehe. Rasch wird mir klar, dass ich an diesem Ort niemals wieder gesund werden kann. Ich verlange mit letzter Kraft ein Gespräch mit der zuständigen Ärztin und erkläre ihr nach zwei Stunden Wartezeit, dass ich hier nicht bleiben werde.
Ich bin verblüfft, dass sie das scheinbar sogar versteht und selbst nicht glücklich ist über die dort herrschenden Bedingungen. Sie macht mir aber zugleich klar, dass mich das alles eigentlich gar nicht stören sollte, so schwer erkrankt, wie ich nun einmal sei. All dies sagt sie zwar nüchtern und sachlich, aber auch dieser Vortrag von ihr kann mich nicht davon überzeugen, dass ich im Grunde gar keine andere Wahl habe als hierzubleiben und schnellstmöglich mit der stationären Therapie beginnen sollte. Während des Gesprächs versucht sie wiederholt, mich zum Bleiben zu überreden, führt mir vor Augen, dass wenig Hoffnung auf eine Genesung für mich bestünde ohne Therapie, ohne Medikamente – und erst recht ohne die Einsicht, dass ich wirklich krank bin.
Ich kann die Argumente von Frau Dr. Mertens durchaus nachvollziehen. Kann mir auch eine Therapie vorstellen – und wenn es unbedingt sein muss, selbst eine stationäre Therapie. Aber nicht hier! Da muss es doch irgendeine andere Option geben. Woher ich die Entschiedenheit nehme, mit dieser Vehemenz meine Auffassung zu vertreten und sie auch durchzusetzen, und zudem unmissverständlich zu verstehen gebe, dass ich mich nun selbst entlassen werde, weiß ich selbst nicht. Ich habe keine Ahnung, wie es draußen weitergehen soll, aber eines weiß ich ganz genau: Hier muss ich weg, und zwar sofort!
Im Grunde ist mir natürlich klar, dass die Ärztin recht hat. Aber ebenso klar ist mir, dass ich dort nicht bleiben kann, unter solchen Bedingungen je wieder gesund werde. Ich greife als letztes Angebot von Dr. Mertens auf, mich bei Frau Dr. Bilder, der Psychiaterin in der Ambulanz, zu melden. Sie könnte mich während der nächsten Zeit ambulant solange weiterbetreuen, bis ich einen Therapieplatz bei einem niedergelassenen Therapeuten gefunden hätte oder eine stationäre Behandlung in einer anderen Klinik beginnen würde.
Das klingt nach einem guten Kompromiss und scheint durchaus praktikabel zu sein. Und so willige ich ein. Ich ahne, dass ich mich auf jeden Fall ein wenig entgegenkommend zeigen sollte, ehe man mich zwangsweise wieder auf die ‚Geschlossene‘ verlegt. Denn ich erinnere mich dunkel daran, dass den Ärzten diese Möglichkeit offensteht, sofern ein Patient eine akute Gefahr für sich selbst oder für andere darstellen sollte. Auch wenn Recht nicht meine Stärke war, aber so einen oder zumindest so ähnlichen Paragrafen gibt es, da bin ich mir sicher.
Ich versuche also, einen möglichst geordneten und vernünftigen Eindruck zu machen, und verspreche Frau Dr. Mertens, mich umgehend in der Ambulanz zur weiteren Behandlung einzufinden.
Beim Verlassen der Station und meiner Rückkehr in die Freiheit – wenn auch zunächst nur in den Klinikpark – atme ich erst einmal ganz tief durch. Frei, wieder frei!
5 Italien – der Anfang vom Ende
Nach fünf denk- und merkwürdigen Tagen in der Akutpsychiatrie, die ich überstanden habe, überwältigt mich auf einmal das Gefühl – euphorisch und trügerisch zugleich –, mich schon wieder deutlich besser zu fühlen. Ich bin sogar zuversichtlich, dass es mir gelingen wird, meinen neuen Weg zu finden. Woher ich diesen Optimismus nehme, weiß ich gar nicht. Aber, endlich wieder in Freiheit, bin ich bereit, mein Leben erneut in den Griff zu bekommen. Doch diese Entschlossenheit, diese vage Zuversicht fällt bereits nach wenigen Tagen von mir ab – und ich lande ein weiteres Mal dort, wo ich vor dem Klinikaufenthalt bereits gestanden habe.
Mit Frau Dr. Bilder aus der Klinikambulanz vereinbare ich, sie einmal in der Woche aufzusuchen und mit ihr meine Befindlichkeit und die aktuellen Ereignisse zu bereden. Sie wird mich erst einmal weiter krankschreiben und mir neue Medikamente verordnen. Es gibt eine große Vielzahl von Antidepressiva und jedes hat seine eigene Wirksamkeit, aber auch seine eigenen, nicht selten unangenehmen Nebenwirkungen. Wir müssen wohl einiges durchprobieren, bis ich eines finde, das ich vertrage und das ich auch akzeptieren kann. Benzodiazepine, die Beruhigungsmittel, die ich in der Klinik als Notfallmedikament bekommen habe und die mich so angenehm bedröhnt haben, werden nämlich direkt wieder abgesetzt, weil sie ein zu hohes Suchtpotenzial haben und außerdem bereits nach einigen Wochen mehr unangenehme als gewünschte Wirkungen zeigen.
Die regelmäßigen Konsultationen bei Frau Dr. Bilder nehme ich sehr gerne wahr. Sie ist eine außergewöhnlich warmherzige Ärztin und ich kaufe ihr ein wirkliches Interesse an mir und meiner Geschichte ab. Ich vertraue ihr und habe das gute Gefühl, in meiner Situation verstanden zu werden, nicht mehr ganz so allein damit zu sein.
Endlich, endlich habe ich Ovambo wieder. Dieses Mal hat ihn sein früheres Herrchen zu Gitte gebracht, dort kann ich ihn abends abholen. Eine Begegnung mit Eberhard ist und bleibt für mich zu diesem Zeitpunkt absolut unvorstellbar und so muss mein Hund durch die ‚Schleuse Gitte‘. Also können wir beide jetzt damit beginnen, uns in der neuen Wohnung einzuleben. Auf der Fahrt dorthin frage ich mich, was an meinen Empfindungen und meinem Zustand sich denn nun in den letzten Tagen verändert hat. Nicht viel, muss ich ehrlich und auch ein wenig enttäuscht feststellen. Aber zumindest habe ich nun immerhin eine Diagnose, mein fürchterlicher Zustand und mein schreckliches Erleben haben endlich einen Namen: Burnout und eine schwere Depression. Die neue Wohnung ist noch kein Zuhause, ich habe ja gar keines mehr. Vielleicht ist sie eine