Dennoch verkneift er sich am Ende nicht einen moralisch-belehrenden Abschied:
„Eberhard, du hast eine Verantwortung deiner Frau gegenüber. Ihr seid viele Jahre miteinander verheiratet. Du kannst dich nicht einfach mir nichts, dir nichts aus der Verantwortung stehlen und so tun, als ginge dich das alles nichts mehr an. Hast du auch schon mal an deine moralische Verpflichtung als Ehemann gedacht? Britt ist sehr krank. Sie benötigt deine Hilfe! Und vor allen Dingen braucht sie auch therapeutische Hilfe, und, wie es aussieht, ganz sicher auch eine lange Auszeit. Sie hat sich total übernommen in den letzten Jahren und nun versetzt du ihr auch noch den Todesstoß? Das ist nicht der Sinn von Ehe, nicht das, was du ihr bei eurer Hochzeit einmal versprochen hast!“ Eberhard bleibt stumm. „Vielleicht“, fährt Steve fort, „solltest du deine ablehnende Haltung noch mal überdenken. Auch vor dem Hintergrund eurer Geschichte. Und ganz besonders auch im Rückblick darauf, wie loyal Britt dir in all deinen schwierigen Zeiten immer zur Seite gestanden hat. Ich kenne euch beide nun schon so viele Jahre, ihr gehört doch einfach zusammen! Du bist ein Idiot, das jetzt einfach wegzuwerfen. Und ich sag’ dir noch was: Glaub mir, es wird der Tag kommen, an dem du das noch bitter bereuen wirst, da bin ich mir ganz sicher!“ Damit beendete Steve sein flammendes Plädoyer für mich, für uns beide. Genutzt hat es jedoch nichts. Eberhard war weiterhin unversöhnlich, ohne jegliches Interesse an mir, an meinem Leben, an meinem Gesundheitszustand.
Nachdem Steve und ich an diesem Morgen nun einige Minuten lang telefoniert hatten, war er offenbar von meinem alarmierenden Zustand überzeugt. Seine Stimme verändert sich spürbar hin zum Sachlichen – und dann bringt er meine Situation auf den Punkt:
„Britt, du bist total fertig mit deinen Kräften! Dein Verhalten, das ist nicht mehr länger bloß eine normale Trauerreaktion am Ende einer Ehe. Du hast einen totalen Zusammenbruch, physisch und psychisch! Du bist sehr krank, du brauchst Hilfe, sofort!
Und einen Arzt und Medikamente. Du gehörst umgehend in ärztliche Behandlung! Versprich mir, dass du dir ärztliche Hilfe holst, bitte! Und melde dich, sobald du entsprechende Schritte eingeleitet hast“, so seine eindringlichen und klaren Worte. „Denn ich, Britt, kann das so nicht mehr verantworten!“
Wie groß seine Sorge und wie besorgniserregend mein Zustand zu der Zeit wirklich waren, sollte er mir erst viel später erzählen.
Ich höre seine Worte, lasse sie sacken, beginne allmählich zu verstehen: Ich bin also krank. Ich brauche Tabletten, ich benötige einen Arzt. Ja, vielleicht ist das wirklich so und er hat recht. Ich beginne, es zu akzeptieren, ganz langsam.
In den vergangenen Monaten hatte ich die Ausbildung zur Heilpraktikerin für Psychotherapie absolviert, hatte mir sämtliche psychischen Krankheitsbilder umfassend eingeprägt, hatte alle Symptome verstanden. War als psychologische Beraterin tätig, habe psychische Erkrankungen bei anderen erkannt. Aber dass es nun mich selbst erwischt haben soll, konnte ich weder sehen, noch verstehen. Andererseits habe ich auch keine wirkliche Wahl mehr. Ich kann und ich will für mein Leben, für jede einzelne weitere Stunde keine Verantwortung mehr übernehmen. Der Schmerz in mir ist so unfassbar groß und die Tränen laufen und laufen. Ich kann nichts dagegen tun, kann es einfach nicht mehr aufhalten oder gar unterdrücken. Und ich werde zusehends schwächer und schwächer.
Ich mache mich in mein Büro, das immer noch nicht eingerichtet ist, ignoriere die noch nicht ausgepackten Kisten und setze ich mich an den Computer. Ich begebe mich auf die Suche nach psychotherapeutischen Praxen in der Umgebung. Ich finde ein paar Namen von Therapeuten, wähle die Telefonnummern, doch erreichen kann ich niemanden. Meist höre ich eine Ansage auf AB – aber welche Nachricht soll ich denn hinterlassen? Und wenn doch einmal irgendwo ein Zeitfenster von zehn Minuten für eine telefonische Beratung vorgesehen ist, dann ist dieser Anschluss durchgängig besetzt – bis ich wieder beim AB lande.
Schon will ich aufgeben, als mein letzter Versuch doch noch persönlich beantwortet wird. Eine freundliche Stimme in einer Praxis nimmt das Gespräch entgegen. Stammelnd und unzusammenhängend versuche ich, meine Situation zu schildern und bitte um Hilfe. Freundlich, aber bestimmt werde ich allerdings auch dort abgewiesen:
„Tut mir leid, aber da sind Sie falsch. Wir übernehmen leider keine Notfälle hier in der Praxis. Und da werden Sie auch woanders kein Glück haben. Wenden Sie sich doch am besten an die Ambulanz der nächsten psychiatrischen Klinik, dort wird man Ihnen helfen.“ Netterweise nennt mir die Stimme sogar die Telefonnummer der Klinik und wünscht mir viel Glück.
Ich wähle die erhaltene Telefonnummer und erreiche den Empfang der Klinikambulanz. Erneut schildere ich einer wildfremden Person meine Situation. „Ich verbinde Sie mit der zuständigen Ärztin, einen Augenblick bitte.“ Das wundert mich dann doch: Gleich beim ersten Versuch sollte ich eine Ärztin ans Telefon bekommen?
Frau Dr. Bilder meldet sich und ist unglaublich freundlich. Das macht es mir leichter, ihr meinen Zustand zu schildern. „Ich bin total am Ende! Ich fühle mich ganz merkwürdig. Irgendetwas stimmt nicht mehr, nicht mit mir, nicht mit meinem Erleben. Und ich kann einfach nicht mehr aufhören zu weinen. Ein befreundeter Psychotherapeut hat mir geraten, mir professionelle Hilfe zu besorgen, mich in eine Klinik zu begeben.“ Ich rede so schnell ich kann, meine Stimme überschlägt sich fast.
Obwohl ich zu einer völlig Fremden spreche, habe ich zu der Stimme am anderen Ende auf Anhieb Vertrauen gefasst. Vielleicht aber habe ich einfach auch keine andere Wahl mehr und ich klammere mich an diesen letzten Strohhalm, ergreife diese einzige Chance auf Hilfe, die ich gefunden habe. Ich weine, unablässig.
„Ich möchte, dass Sie bitte sofort hierher kommen!“, beschließt Frau Dr. Bilder freundlich, aber sehr bestimmt. Ich möchte mit Ihnen sprechen – und Sie gegebenenfalls auch stationär hier aufnehmen.“
In diesem Moment wissen wir beide noch nicht, dass wir uns für mehr als ein ganzes Jahr von nun an fast jede Woche sehen würden. Und dass es diese Ärztin sein wird, deren Entscheidungen und Empfehlungen mein weiteres Leben maßgeblich beeinflussen sollten.
„Ich muss das erst organisieren, meinen Hund unterbringen, so einfach geht das nicht …“, lasse ich den Satz unvollendet in Hilflosigkeit verklingen. Diese Entscheidung kann ich so schnell nicht treffen, ich muss an Ovambo denken, kann ihn doch jetzt nicht alleine lassen. Ich habe keine Ahnung, wie lange das alles dauern wird.
Doch Dr. Bilder unterbricht mich: „Regeln Sie das alles so schnell wie möglich und kommen Sie dann hierher. Und richten Sie sich darauf ein, für längere Zeit hier zu sein. Vermutlich, denke ich, benötigen Sie eine stationäre Behandlung.“
Alles in mir sträubt sich dagegen – und zugleich empfinde ich auch eine ungeheure Erleichterung bei dem Gedanken, mich für eine Weile aus meinem Leben verabschieden zu können, das mich total überfordert. Nicht mehr planen müssen, keine Kisten mehr auspacken, keine Möbelhäuser mehr aufsuchen. Ja, eine Auszeit wird mir guttun, das spüre ich überdeutlich. Und vielleicht gibt es ja auch Medikamente, die mich eine Weile einfach vergessen lassen werden.
Sofort rufe ich Gitte an, frage, ob ich ihr Ovambo bringen darf. Und ob sie auch seine Übergabe an Eberhard arrangieren kann. Ich erkläre ihr in abgehackten Sätzen, dass ich sofort ins Krankenhaus muss und Ovambo dringend irgendwo eine Bleibe braucht. Gitte mag Ovambo total gern, hat aber selbst Katzen zu Hause und mit denen verträgt Ovambo sich so ganz und gar nicht. Also wird er bei ihr nicht bleiben können. Wir sind uns dann sehr schnell einig, dass Eberhard sich ja wohl irgendwie für ein paar Tage um seinen Hund kümmern kann. Sie wird ihm das schon klarmachen – und ich weiß, dass sie das schaffen wird. Eberhard schreckte immer ein wenig vor Gitte zurück, sie war ihm zu resolut und auch zu schnippisch. Für meinen Collie ist die Trennung von mir nun ein notwendiges Übel, ich kann es nicht ändern. Schließlich ist das Haus, in das er dann für eine paar Tage zurückkehren wird, jahrelang sein Zuhause gewesen, ist ihm wohlbekannt und vertraut. Und was für ein herzloser Idiot sein Herrchen in den vergangenen Wochen und Monaten geworden ist, versteht er ja glücklicherweise