»Würdest du das denn wollen?«, fragt er nach einer kurzen Pause.
»Was?«
»Dort leben?«
Ich denke eine Sekunde darüber nach.
»Für immer? Nein. Mir würden die Jahreszeiten fehlen.«
Er sieht mich an. »Ist das nicht eigentlich genau der Grund, warum die Leute in solche Länder wollen?«, lacht er.
»Das ganze Jahr Sommer?« Er sieht mich fragend an.
»Die Leute wollen prinzipiell immer nur das, was sie nicht haben. Aber wenn es immer Sommer wäre, wäre er nichts Besonderes mehr.«, sage ich entschieden.
»Würdest du denn auf die Jahreszeiten verzichten wollen?«, frage ich ihn.
»Keine Ahnung. Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Aber so ein Leben ohne Schneematsch, Blitzeis und Regen. Unvorstellbar.«, spottet er und ich sehe ihn an.
»Klar, wenn man immer nur die negativen Seiten sieht, ist das natürlich traurig.«
Er schnaubt angestrengt. »Jetzt zick doch nicht schon wieder rum.«
»Tu ich nicht.«, sage ich wie aus der Pistole geschossen und meine es auch so. »Es ist nur…«
»Nur was?«, fragt er wirklich interessiert, also fange ich an.
»Zum Beispiel der erste laue Tag nach einem ewig langen Winter, an dem man die dicke Jacke auszieht, weil man zum ersten Mal wieder die Wärme der Sonne spürt. Die Tage fangen an länger und heller zu werden und du wachst morgens gut gelaunt auf, weil du zum ersten Mal das Gezwitscher der Vögel hörst.
Oder der Herbst. Oh mein Gott, ich liebe den Herbst. Mal ganz ehrlich, gibt es etwas Schöneres, als durch einen sonnigen Herbsttag zu laufen? Wenn unter den Schritten das Herbstlaub raschelt und die Sonne so tief durch die Bäume scheint, dass sie praktisch dafür sorgt, dass sie in diesem tiefen Rot leuchten.
Ich meine, das hat doch was …keine Ahnung, Magisches. Ganz zu schweigen von der Weihnachtszeit, ich meine, ich kann mir nicht vorstellen, dass bei 30 Grad Außentemperatur auch nur die geringste Weihnachtsstimmung aufkommt, oder?«
Ich lache und hole Luft, woraufhin ich mir sofort auf die Zunge beiße. Man hör auf zu labern!, stöhnt meine innere Stimme, aber dafür ist es jetzt zu spät.
Oh Gott, das hab ich jetzt nicht wirklich alles gesagt, oder?!
Ich wage es nicht, ihn anzusehen und mache mich innerlich auf einen vernichtenden Kommentar gefasst. Doch er kommt nicht.
Als ich vorsichtig zu ihm sehe, hat er den linken Arm an die Tür gestützt und den Kopf an die Faust gelehnt. Mit der rechten Hand umfasst er das Lenkrad und sieht mich an.
Ohne Hohn, ohne etwas Gelangweiltes oder Genervtes.
Er sieht mich einfach nur an.
Ich atme tief ein und versuche meine Unsicherheit mit einem Lachen zu kaschieren. »Das klang jetzt alles total bescheuert, oder?«
Ich vergrabe mein Gesicht in beiden Händen und schüttle den Kopf.
»Tut mir leid.«
Doch er reagiert immer noch nicht und langsam werde ich unruhig.
»Ich habe noch nie jemanden getroffen, der sich für so eine simple Sache so begeistern kann.« Okay, dieser Kommentar kam jetzt unerwartet, doch er redet weiter.
»Dieser Herbsttag, den du da gerade beschrieben hast«, bei dem Wort Herbsttag zieht er eine Grimasse, wird dann aber sofort wieder ernst.
»Na ja.« Er zögert einen Moment, zieht die Schultern hoch und sieht mich an. »Ich wäre sofort mitgegangen.«
Die Atmosphäre im Auto verändert sich schlagartig und ich hab das Gefühl mein Herz hat aufgehört zu schlagen und während sein Blick sich in meinen bohrt, ist die Spannung praktisch greifbar.
Dann wende ich den Blick ab und sehe aus dem Fenster.
Nach ein paar schweigenden Minuten frage ich schließlich:
»Wer war die Frau? Gestern im Krankenhaus?«
Immerhin bin ich nur hier, weil er versprochen hat, es mir zu erzählen. Rede dir das nur ein!
Er antwortet nicht, doch ich kann sehen, dass sein Oberkörper sich verspannt.
»Arbeitest du da?«
Stirnrunzelnd sieht er weiter nach vorn. »Sozusagen.«
»Sozusagen?«, hake ich nach.
»Scheiße, müssen wir jetzt darüber reden?«
Er bemüht sich wirklich, mich nicht anzuknurren.
Ich ziehe die Stirn in Falten, woraufhin sein Blick sofort auf die Falte zwischen meinen Augenbrauen fällt und er die Augen verdreht.
»Besteht denn die geringste Chance, dass du locker lässt, wenn ich es dir nicht erzähle?«
»Nein.«, antworte ich entschieden.
»Hatte ich auch nicht angenommen.«
Er atmet lachend aus und scheint einen kurzen Moment zu überlegen, wo er anfangen soll.
»Ich habe in meinem Leben ein paar Fehler gemacht und viele beschissene Entscheidungen getroffen.«
Sein Gesicht wirkt völlig emotionslos.
»Okay?« Meine Stimme ist leise und sanft, er hebt unbekümmert die Schulter.
»Dafür muss ich jetzt bezahlen.« Sein Tonfall lässt keinen Zweifel daran, dass er jetzt fertig ist.
»Also …sind das so eine Art Sozialstunden?«, frage ich vorsichtig.
»Da sag noch mal einer, hübsch ist gleich dumm.«, scherzt er und ich bin so neugierig, dass ich die Tatsache übergehe, dass er mich gerade hübsch genannt hat. »Was hast du getan?«
Doch er schüttelt den Kopf.
»Ich finde, das reicht fürs Erste, so viel hast du dir verdient.«
Er grinst mich etwas verunsichert an.
Denkt er, ich würde ihn verurteilen?
»Mmhh.«, murmele ich unzufrieden.
»Wieso hast du nicht erwähnt, dass du einen Freund hast?«, fragt er völlig unvermittelt und es trifft mich wie ein Donnerschlag.
»So ein Themenwechsel ist nicht dein Ding, oder?«, necke ich ihn, doch er sieht mich nur erwartungsvoll an.
Ich bin mir sicher, dass er Daniel meint. Wie kommt er darauf?
Und vor allem, was sage ich ihm jetzt? Dass ich nicht allein wohnen kann, weil ich krank bin? Ganz sicher nicht!
Soll ich ihm sagen, dass er nicht mein Freund ist, sondern nur mein Mitbewohner? Aber wieso sollte ich ihm das erklären?
Vielleicht ist es gar keine schlechte Idee, ihn in dem Glauben zu lassen. Denn das hier kann und darf sowieso nie über eine Freundschaft hinausgehen. Wenn er glaubt, Daniel ist mein Freund, gibt es eine klare Grenze und auch wenn es mir gerade schwerfällt sie zu ziehen, ist es besser so.
»Es hat sich… einfach noch nicht ergeben.«
»Aha.«, sagt er überheblich.
»Was willst du damit sagen?«, frage ich etwas zu laut.
»Nichts.«, höhnt er mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Wie ist er denn so?«
Irgendwas scheint ihn wahnsinnig zu amüsieren.
»Er ist toll.«
Sein Grinsen wird breiter.
»Toll?