5
Als Lisa aus dem Büroanbau trat, klingelte ihr Handy. Kai Ringel forderte sie auf, ihn vor einem Blumengeschäft im Wöschenhof zu treffen. Er hätte was.
Der Nieselregen ließ allmählich nach, die Wolken verzogen sich und fern am Horizont wurde es so hell, als wolle die Sonne heute doch noch mal durchbrechen.
In dem Blumenladen beteuerte die junge Frau, dass Gunda Harsfeld, eine gute Kundin, vorgestern bei ihr weiße Nelken, einige rote Rosen und gedrahtete orangefarbene Gerbera bestellt hatte.
„Eine merkwürdige Mischung“, wunderte sich Lisa, und die junge Frau nickte eifrig:
„Das habe ich ihr auch gesagt. Aber diese Blumen in dieser Zusammenstellung seien der Lieblingsstrauß einer früheren Theaterkollegin gewesen, und Frau Harsfeld wollte den Strauß gestern in Ohlsdorf auf das Grab der Kollegin bringen. Es sei deren Geburtstag.“
„Und? Hat sie es getan?“
„Vermutlich, sie ist gestern gegen Mittag gekommen und hat die bestellten Blumen abgeholt.“
6
Das Haus Nummer 39 war ein langgetreckter Bau mit einem Flachdach, in einem scheußlichen Rosa gestrichen. Nach dem Klingelbrett zu urteilen, wohnten hier an die achtzig Parteien. Der Aufzug wurde gerade inspiziert und war deshalb außer Betrieb, und die Steinstufen glänzten glitschig nass. Lisa fluchte leise und klammerte sich an Ringels Arm fest; natürlich musste der liebe Kollege wieder eine seiner unnötigen Bemerkungen über die Eitelkeit der Frauen und unpassendes Schuhwerk absondern.
Die Wohnungstür war verschlossen, aber Ringel öffnete das Schloss mühelos mit einer uralten, abgelaufenen Telefonkarte. Lisa staunte immer wieder über die kriminellen Fähigkeiten ihres Kollegen.
„Besser, als die Tür einzutreten“, meinte der, und dem musste sie zustimmen. Als sie die Tür aufstießen, schlug ihnen der unverwechselbare Gestank von getrocknetem Blut entgegen. Die bis zur halben Höhe geflieste Küche sah wie ein Arbeitsraum im Schlachthof aus. Kein Zweifel, hier war Gunda Harsfeld erstochen worden. Zwischen Spüle und Herd stand ein Holzblock mit verschieden großen Küchenmessern. Eins fehlte.
Die Blutlache auf dem Fußboden war teilweise aufgewischt worden, aber der Mörder oder die Täterin hatte bald die Lust verloren und den Rest eintrocknen lassen. Lisa ging ins Bad, während Ringel die Kriminaltechnik anrief.
„Schau mal, Kai, hier hat jemand nach der Tat geduscht.“ Vor dem Abfluss hatten sich auf dem Boden der Wanne rosa Schlieren gebildet, in denen lange Haare klebten. Im Wohnraum fehlten an den Wänden kleinere Bilder, noch erkennbar an den grauen Staublinien der Rahmen auf der Tapete. Im Schreibtisch waren zwei Schubladen und eine Tür gewaltsam aufgebrochen.
„Wartest du bitte auf die Kollegen? Ich gehe mal Klinken putzen.“
Doch das brachte nichts. Wie sie schon befürchtet hatte, lebten in diesen Ein- und Zweiraumwohnungen vornehmlich alleinstehende Berufstätige, die zu dieser Tageszeit das Haus verlassen hatten.
Auf der Harsfeldschen Etage öffnete nur eine ältere Frau mit grauen Haaren und einer starken Brille; eigentlich hätte sie auch noch ein Hörgerät benötigt. Nein, zu Frau Harsfeld konnte sie überhaupt nichts sagen, eine ruhige Nachbarin, die wenig Wert auf Kontakte im Haus legte. Vielleicht wusste der Hausmeister mehr, und wenn nicht der, dann seine überall herumschnüffelnde Frau.
Der Hausmeister war nicht in seiner Wohnung, aber seine Frau schien einem kleinen Plausch nicht abgeneigt, nachdem sie das gebührende Entsetzen ob der Todesnachricht überwunden hatte. Nein, über Frau Harsfeld konnte sie nichts sagen, und ihre Miene verriet, dass sie das der Toten auch jetzt noch verübelte. Eine Schauspielerin, die viel in den Studios drüben gearbeitet hatte. Wann zuletzt getroffen? Vorgestern hatte sie Frau Harsfeld zum letzten Mal gesehen. Nee, dabei war ihr nichts aufgefallen. Frau Harsfeld hatte es wieder einmal eilig, es reichte nie zu einem kleinen Plausch oder Gespräch unter Nachbarn. Familie? Angehörige? Oh je, da war sie total überfragt, da konnte wohl diese Mareike Schertz weiterhelfen. Drüben, auf der anderen Seite der Kuehnstraße Nummer 166B. Die trieb sich doch dauernd bei der Gunda Harsfeld herum. Ein fester Freund? Nein, keine Ahnung. Es hatte sie auch schon verwundert. Denn an sich war sie ganz attraktiv, die Gunda Harsfeld. Sehr ruhig, zurückhaltend, beschwerte sich nie, und wenn ihr Mann mal was in ihrer Wohnung reparieren musste, geizte sie nicht mit dem Trinkgeld, ganz anders als die anderen Mieter, von denen sie vielleicht Geschichten erzählen könnte. Lisa winkte rasch ab.
7
Mareike Schertz meldete sich nicht am Telefon, und Lisa hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter, sie möge bitte morgen unbedingt vormittags im Landeskriminalamt anrufen. Dezernat 41. Hauptkommissarin Lisaweta Koschwitz.
Schluss für heute Morgen. Die Sonne brach durch, der Himmel hatte endgültig aufgeklart.
8
In der Harsfeld-Wohnung herrschte noch Hochbetrieb, Kai Ringel seufzte und raufte sich die Haare. „Fingerabdrücke en masse, Lisa. Dafür nichts Schriftliches, keine Briefe oder Urkunden, kein Telefonverzeichnis, keine Familienbilder oder Hinweise auf einen Anwalt oder Notar.“
„Das hat der Täter aus den aufgebrochenen Fächern mitgenommen. Wirst du alleine fertig?“
„Sicher doch, wenn Ricki nicht wieder den großen Rappel kriegt und die Wohnungswände mitnehmen will.“
Ricki Kulz, klein und rundlich, tüchtig und zuverlässig, aber von Natur aus ein gefährlicher Choleriker, hatte leider die letzte Bemerkung gehört und brüllte aus Leibeskräften: „Ringel, du Arschloch. Rede kein dummes Zeug, sondern hilf lieber, die Bilder von den Wänden zu nehmen.“
Lisa und der dicke Ricki verstanden sich gut und mochten sich. „Wenn das der erste Schritt zum Abbau der Wände ist, nehme ich Ringel mit.“
„Dachte ich mir. Kannst wieder mal mit deinen Absätzen nicht alleine die Treppe hinunterlaufen?“ Ricki wusste, wohin er welche Giftpfeile schießen musste.
9
Lisa saß noch an den Berichten und Protokollen, als das Telefon klingelte und die Staatsanwältin Heike Saling die Hauptkommissarin Lisaweta Koschwitz zu sehen wünschte.
„Ich muss nur noch ein Protokoll fertig tippen.“
„Sie sollen meinetwegen nichts überstürzen, Frau Koschwitz.“
Das Verhältnis zwischen den beiden Frauen war nicht gut. Vordergründig hatte es mit gegenseitigen unfreundlichen Bemerkungen zu tun. Weil Heike Saling eine Vorliebe für extrem kurze Röcke besaß, sprach Lisa so laut wie abschätzig von den Bauchbinden der Staatsanwältin, und Heike Saling zahlte mit abfälligen Bemerkungen über die Storchenbeine der Hauptkommissarin zurück. Anlass zu diesen Unfreundlichkeiten war der Kommissar Kai Ringel, den – so Lisas Vorwurf – die Staatsanwältin etwas zu liebevoll und zu zärtlich anzusehen pflegte, was objektiv betrachtet nicht zutraf. Aber wenn es zwischen Lisa und Kai wieder einmal knisterte, drohte er, bei der Staatsanwaltschaft vorbeizuschauen, und Lisa schoss jedes Mal an die Decke.
„Sie wurde also in ihrer Küche erstochen?“
„Ja.“
„Kein Hinweis auf den Täter? Oder das Motiv?“
„Bis jetzt nicht.“
„Wo sind ihre Kleider?“
„Spurlos verschwunden.“
„Merkwürdig. Und in der Nacht ist die Leiche an den Fundort gebracht worden?“
„So sieht es aus.“
„Warum