4.
Die Feenkönigin sah hinunter auf die Erde und schüttelte den Kopf über all das, was sie dort erblickte: Über den großen Städten lagen die Autoabgase wie eine graue Nebelglocke. Geldgierige Banker setzten das Vermögen anderer ohne jeden Skrupel aufs Spiel. Und Politiker sorgten mit ihren Handlungen immer wieder für Krieg anstatt für Frieden. Doch dann entdeckte die Königin mitten in einer großen Stadt ein junges Mädchen, das an einer Bushaltestelle stand und den kleinen Rauhaardackel einer alten Dame streichelte. Die Feenkönigin staunte. Zwar war auf den ersten Blick an dieser Szene nichts ungewöhnliches, doch das Mädchen war von einer gold schimmernden Aura umgeben. Neugierig betrachtete sie die Gestalt genauer und blickte in die traurigsten Augen, die sie seit Langem gesehen hatte. Mit wachsamem Blick folgte die Königin der Erdenbewohnerin auf ihrem Heimweg in den Stadtteil St. Pauli, der aus ihrer Sicht nur bedingt als Wohnort für ein so junges, zartes Wesen geeignet war. Das Mädchen betrat eine Wohnung, in der offenbar noch ein anderes lebte, nur ein Jahr älter als die Goldene. Dieses andere Mädchen schien das komplette Gegenteil zu sein. Ihre Aura war dunkel gefärbt von Zorn und schlechten Gedanken. An der Stelle, an der das Sonnenmädchen ihr Herz trug, konnte die Feenkönigin bei der Tochter des Mondes nur einen schwarzen Klumpen, stinkend wie Teer entdecken. Diese beiden waren wie Feuer und Wasser, Tag und Nacht, Sonne und Mond – kein Geschwisterpaar hätte gegensätzlicher sein können.
Als die Mutter der beiden nach Hause kam und die Stimmung in der winzigen Wohnung so frostig wurde, dass die Feenkönigin zu frieren begann, beschloss sie, dass es an der Zeit war, die Erde wieder zu verlassen. Sie würde dorthin zurückkehren, wo sie in der Lage war, goldene Schicksalsfäden zu spinnen und damit die Wege mancher Menschen zu beeinflussen.
5. Marie Goldt
(Mittwoch, 9. November 2011)
»Findest du, dass uns das steht?«
Ich musste lachen, als Finchen und Julia in schwesterlichem Partnerlook vor mir standen, beide eine Wollmütze mit Tiergesicht auf dem Kopf. Julia trug die Version »Panda«, ihre vierjährige Schwester Finja dasselbe Modell, Motiv Teddybär. Ich selbst liebäugelte mit Chunky Red Heart Slippern, einer Art Hüttenschuh-Stiefel mit Kunstfellbesatz, Bommeln und roten Herzchen darauf, sowie dazu passenden Pulswärmern. »Sieht nach einem totalen Kauf-Muss aus«, grinste ich und beäugte das Preisschild der Slipper. Neunundzwanzig Euro, das war definitiv zu teuer für mich. Finja stolzierte wie ein Topmodel durch den Laden und zeigte allen Kunden, wie niedlich sie mit der Bärenmütze aussah. Dann war sie von einer Sekunde auf die andere durch die Ladentür verschwunden, um ihre Beute dem weitaus größeren Publikum auf der belebten Mönckebergstraße vorzuführen.
»Halt, hiergeblieben, junge Dame«, rief ich, packte Finchen an der knallroten Kapuze und beförderte sie wieder zurück. Mittlerweile war auch eine Verkäuferin auf uns aufmerksam geworden, weil die Alarmanlage losgegangen war, was Finja jedoch völlig unbeeindruckt ließ.
»Sie ist eine kleine Ausreißerin«, entschuldigte Julia sich und gab ihrer Schwester eine leichte Kopfnuss, was diese mit einem genervten »Menno« kommentierte. Ich versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen, auch wenn ich mich innerlich über Finchen kringelig lachen musste. Sie war die geborene Schauspielerin.
»Und? Bist du jetzt gerüstet für dein Date mit André?«, wollte ich wissen, nachdem Julia die beiden Mützen bezahlt hatte und dachte, dass der neue Hottie an der Schule bescheuert sein musste, wenn er ihre Gefühle nicht endlich erwiderte. »Ich denke schon. Vorausgesetzt, dass es am Freitag nicht so warm wird wie heute«, grinste Julia siegessicher. »Sonst muss ich umdisponieren.«
Als wir unseren Lieblingsladen Accessorize verlassen hatten, schlug uns ein Schwall schwüler, abgasschwerer Luft entgegen. Der Eiswind war einem Hochdruckgebiet gewichen – ein spontaner Wetterwechsel, wie so häufig in diesem Jahr.
Ich hielt Finja an der Hand, damit sie uns nicht entwischen und vor einen der Busse laufen konnte, welche die beliebte Hamburger Einkaufsstraße mit ziemlichem Tempo rauf- und runterfuhren. Unser nächstes Ziel war das Café Vivet in der Spitalerstraße, in dem es den besten Rüblikuchen jenseits der Schweiz gab. Finja hatte eine Schwäche für die kleine Karotte aus Marzipan, die auf dem locker-luftigen Traum aus geraspelten Karotten, Haselnüssen und Aprikosenmarmelade thronte. Sie war immer erst zufrieden, wenn wir unseren Stadtbummel abschließend mit dieser Köstlichkeit krönten.
Nachdem wir bestellt hatten, ging ich zur Toilette.
Dort musste ich ein paarmal tief durchatmen, denn es nagte ein wenig an mir, dass ich im Gegensatz zu Julia so sparsam sein musste. Ludmilla zahlte mir nur fünf Euro neunzig die Stunde. Um gegen mein negatives Gefühl anzukämpfen, wusch ich mir erst mal das Gesicht mit kaltem Wasser und schaute dann in den Spiegel: Ich sah ein hübsches Gesicht mit grünen Augen, das lange, rotblond gelockte Haar zu einem dicken Zopf gebunden. Meine Nase konnte man durchaus als markant bezeichnen, eindeutig Papas Erbe. Die hohen Wangenknochen – um die Julia mich glühend beneidete -, waren allerdings ein Geschenk meiner Mutter. Als ich an die beiden dachte, wurde mir sofort schwindelig und ich klammerte mich am Rand des Waschbeckens fest. Nein, Marie, du wirst jetzt nicht ohnmächtig!, sprach ich mir Mut zu und dachte an die Aufgabe, die Dr. Hahn mir gestellt hatte: der Brief an meinen Vater.
Als ich zurück an den Tisch kam, standen nicht nur drei Stück Kuchen und drei Becher heiße Schokolade darauf, sondern auch ein Päckchen. »Was ist das denn?«, fragte ich verwirrt und setzte mich. Julia lächelte vielsagend. »Pack’s aus, pack’s aus«, rief Finja aufgeregt und pikste mit der Gabel kleine Löcher in das hübsche Papier. »Hey, lass das«, schimpfte Julia. Grinsend steckte ihre Schwester den Kopf tief in den Becher. Gespannt löste ich das goldene Kringelband und öffnete vorsichtig das Geschenk.
»Es ist zwar noch nicht Weihnachten, aber ich hoffe, du freust dich trotzdem«, sagte Julia und sah aus, als würde es sie selbst vor Aufregung gleich in tausend Stücke reißen. »Nun mach schon Marie, das Ding beißt nicht! Ist ja nicht mit anzusehen, wie lange du brauchst, um es auszuwickeln.«
Ich konnte mein Glück kaum fassen, als ich die wollenen Slipper mit den roten Herzchen in der Hand hielt. »Www. . . wann hast du …?«, stotterte ich aufgeregt.
»Während du erst die Pulswärmer ausprobiert und dann mein Schwesterherz eingefangen hast«, grinste Julia und Finchen gluckste zufrieden.
»Dann war das also ein abgekartetes Spiel?«, fragte ich, während meine Finger mit den puscheligen Bommeln spielten. Finja lächelte frech und legte dabei zwei Zahnlücken frei, was so entzückend aussah, dass ich sie spontan an mich drückte und abknutschte. »Und was ist mit mir?«, empörte sich Julia, woraufhin ich sie ebenfalls umarmte. »Du bist und bleibst einfach meine beste Freundin, vollkommen unabhängig von irgendwelchen Päckchen«, raunte ich ihr ins Ohr und dachte nicht zum ersten Mal, was für ein großes Geschenk Julia war. In all den Jahren waren wir gemeinsam durch dick und dünn gegangen und kannten einander in- und auswendig. Egal wie tief wir in irgendwelchem Mist steckten, Julia war immer für mich da und ich für sie.
Nachdem wir den Kuchen gegessen und unsere Shopping-Beute ausgiebig bewundert hatten, machten wir uns auf den Weg in Richtung Hauptbahnhof, um nach Hause zu fahren. Wie immer stieg ich einige Stationen vor den beiden aus. »Bis bald, meine Süßen«, rief ich zum Abschied und warf Finchen einen Luftkuss durch die Scheibe zu, als die Bahn weiterfuhr. Ich freute mich jetzt schon wie verrückt auf das Plätzchenbacken mit anschließendem DVD-Marathon, mit dem wir auch dieses Jahr