Goldmarie auf Wolke 7. Gabriella Engelmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriella Engelmann
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Учебная литература
Год издания: 0
isbn: 9783401802466
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nicht mit mir redete! Keine Ahnung, warum, aber wir hatten von Anfang an keinen guten Draht zueinander, sehr zum Leid von Kathrin.

      2. Lykke Pechstein

      (Montag, 7. November 2011)

      Dear Diary,

      ich könnte ausrasten! Detlev Schrott, der Idiot hat behauptet, dass er es nicht glauben kann, wie schlecht ich in Deutsch bin. Er sagt, demnächst würde er mir eine Fünf ins Zeugnis setzen. Und dann erzählt er auch noch vor der ganzen Klasse, dass ich Goethe nicht von Schiller unterscheiden kann. Alle glotzen, alle kichern. Zickenhaufen! Halten sich für was Besseres, nur weil sie die ersten Strophen von der Glocke auswendig können. Als ob das in irgendeiner Form was bringen würde. Schiller, Goethe – who cares! Das hilft ihnen in ihrem Leben garantiert nicht weiter. Mist, Mum ruft. Zeit zum Abendessen. Hoffe, Marie ist bei ihrer Schicki-Freundin Julia und verschont mich heute mit ihrer Anwesenheit. Momentan bekomme ich schon einen Anfall, wenn ich nur ihre Stimme höre. Gut, dass sie sich vor langer Zeit endlich dieses dämliche Geträller als Begleitung für ihr Bratschenspiel abgewöhnt hat. Dieses blöde Gefiedel und Herzschmerzgejaule war kaum auszuhalten gewesen. Mag ja sein, dass ihr Dad ein super Typ war, aber es ist jetzt schließlich schon über vier Jahre her, dass er sich vom Acker gemacht hat. Wahrscheinlich hat er längst mit dem lieben Gott und seiner Engelsschar im Himmel eine Band gegründet. Mum benimmt sich ebenfalls so, als sei sein Tod das Ende der Welt. Ist auch ewig her, dass ich sie habe lachen sehen. Und jetzt, da sie zu allem Überfluss noch bei ihrer Firma rausgeflogen ist, ist endgültig Ende im Gelände. Oh Mann, ich wünschte ich wäre weit, weit weg … Schlaf schön, Tagebuch.

      Deine unglückliche Lykke

      PS: Moms Idee, mithilfe meines Vornamens meinem Nachnamen einen Strich durch die Rechnung zu machen, betrachte ich hiermit als gescheitert. Pech wickelt Glück ein.

      3. Marie Goldt

      (Dienstag, 8. November 2011)

      Dr. Willibald Hahn

      Kinder- und Jugendpsychologe

      Alle Kassen

      Mit pochendem Herzen starrte ich auf das Praxisschild.

      Meine Hände waren eiskalt, und das nicht nur wegen des beißenden Novemberwindes, der grimmig durch die Straßen der Stadt fegte. Die wenigen Passanten, die sich wie ich in diese kleine Seitenstraße in Winterhude verirrt hatten, beschleunigten mit hochgeschlagenem Mantelkragen und eingezogenen Köpfen ihre Schritte. Sie wollten so schnell wie möglich in ihr warmes Zuhause und ich konnte sie sehr gut verstehen.

      Es nützt nichts, ich muss da jetzt durch!, dachte ich, straffte die Schultern und drückte mit klammen Fingern den Klingelknopf. Durch die Gegensprechanlage ertönte die metallisch scheppernde Stimme einer Frau: »Komm rauf, Kindchen, wir sind im fünften Stock. Die schlechte Nachricht ist: Wir haben keinen Fahrstuhl!« Dann ertönte der Summer.

      »Na, Aufstieg gut überstanden?«, fragte eine kleine, rundliche Dame und nahm mir den Mantel ab, als ich endlich oben angekommen war. Ich kämpfte gegen das nervige Schwindelgefühl, das mich seit einiger Zeit in regelmäßigen Abständen überfiel, und schaute mich um. Auf den ersten Blick erinnerte nichts an eine Psychologen-Praxis, ganz im Gegenteil: Der Wartebereich war mit gemütlichen Korbstühlen und bunt bestickten Sitzkissen ausgestattet, wie ich sie neulich in einem Indien-Shop bewundert hatte. Über dem dunklen Dielenboden lagen flauschige Teppiche mit orientalischen Mustern, an den Wänden hingen Bilder, die Szenen aus den Märchen aus 1001 Nacht zeigten.

      »So, Marie, dann gib mir mal bitte die Versicherungskarte und die Überweisung deines Hausarztes«, sagte die nette Dame, die sich als Jorinde Machandel vorstellte – ein ziemlich ungewöhnlicher Name, wie ich fand. Nachdem sie meine Daten auf einer leicht vergilbten Karteikarte notiert hatte, sah sie mich prüfend an. »Was dagegen, wenn ich dich Goldschatz nenne? Wir haben ja von nun an einmal die Woche das Vergnügen, also sollten wir es uns doch so nett wie möglich machen, oder was meinst du?«

      »Wenn es Sie …« glücklich macht, wollte ich gerade sagen, besann mich dann aber doch eines Besseren, ». . . ich meine, wenn Sie das für eine gute Idee halten, gern«, erwiderte ich und musste mir ein Lächeln verkneifen. Jorinde war zwar ein wenig skurril, aber offenbar eine Seele von Mensch. Ob sie Kinder hatte?

      In diesem Moment flog die Tür auf und ein hagerer, baumlanger Herr tauchte auf: »Marie Goldt, wenn ich bitten darf!« Ich schlängelte mich an Dr. Willibald Hahn vorbei und setzte mich mit klopfendem Herzen auf einen gemütlich wirkenden Sessel, der mit dunkelrotem Samt bepolstert war. Neben mir stand ein orientalischer Opiumtisch. Darauf thronten ein silberner Samowar, ein Becher – und eine Schachtel Kleenex. Die gegenüberliegende Wand war erstaunlicherweise leer, bis auf eine große Uhr. Dr. Hahn ließ sich auf den gegenüberstehenden Sessel fallen, seine Augen folgten meinem Blick. »Wie du weißt, haben wir genau eine Stunde Zeit für unsere Gespräche. Es ist gut, wenn du die Uhr im Blick behältst, damit du weißt, wann unsere gemeinsame Zeit um ist. Die Sonne kann ja schließlich nicht ewig im Mittag stehen, wie die Chinesen sagen«, erklärte er, griff nach einem Notizblock und sah mich über den Rand seiner kreisrunden Brillengläser an. »Also, liebe Marie, was führt dich zu uns?« Angesichts dieser Frage bildete sich spontan ein dicker Kloß in meinem Hals, der es mir beinahe unmöglich machte zu antworten. Das Blut sauste in meinen Ohren, vor meinen Augen blitzten grelle Sterne.

      »Mein Hausarzt schickt mich zu Ihnen, weil er keine medizinische Ursache für meine gelegentlichen Ohnmachtsanfälle findet und sich nun offenbar etwas davon erhofft, wenn ich mit Ihnen spreche.« Dr. Willibald Hahn nickte, kritzelte etwas auf seinen Block und sagte zunächst einmal gar nichts. Mit dem dichten karottenroten Haarschopf, der seine großen Geheimratsecken besonders betonte, und den abstehenden Ohren erinnerte er mich an den Comedian Piet Klocke. »Wie oft fällst du denn so aus der Realität?«, fragte er.

      Ich musste ziemlich entsetzt ausgesehen haben, denn Dr. Hahn schob seine Brille weiter den Nasenrücken hinauf und fügte erklärend hinzu: »Wir sagen, dass jemand, der in Ohnmacht fällt, einen Weg für sich gefunden hat, die Wirklichkeit zu verlassen, wenn sie ihm zu viel wird.« Während ich noch überlegte, wen er wohl mit wir meinte, fuhr der Therapeut auch schon fort: »Also, liebe Marie! Was bedrückt dich so sehr, dass du es vorziehst, immer mal wieder zu verschwinden, anstatt das Leben zu genießen und so fröhlich zu sein, wie wir es uns von einem jungen Mädchen wünschen?« Bevor ich antworten konnte, schossen salzige Tränen wie Sturzbäche aus meinen Augen. Stammelnd reihte ich ein paar Worte aneinander: Vater tot, Mutter auf Nimmerwiedersehen verschwunden, Stiefmutter, Stiefschwester, zu wenig Geld und Einsamkeit. Ich verbrauchte mindestens zehn Kleenex, bis ich mich halbwegs wieder unter Kontrolle hatte. Dr. Hahn betrachtete meinen Ausbruch mit einer Emotionslosigkeit, zu der ich persönlich niemals in der Lage gewesen wäre. Wenn in meiner Nähe jemand anfing zu weinen, verspürte ich – egal, ob ich denjenigen kannte oder nicht – das Bedürfnis, ihn zu trösten.

      Lykke bezeichnete das immer ziemlich gehässig als Helfersyndrom oder nannte mich gleich Engel der Barmherzigkeit. Sie selbst blieb meistens ziemlich unberührt, wenn jemand traurig war. Es machte ihr auch nie etwas aus, sich zu streiten oder offen ihre Meinung zu sagen und sich über die Gefühle anderer hinwegzusetzen. Nachdem ich mich halbwegs wieder beruhigt hatte, war die Zeit tatsächlich auch schon um: »So, meine Liebe, das war für heute eine ganze Menge und ich finde, du hast das ganz toll gemacht! Ich denke, ich weiß jetzt ein bisschen was über dich. Deshalb würde ich vorschlagen, dass wir uns ab jetzt regelmäßig jeden Dienstag um sechzehn Uhr sehen. Ich weiß zwar, dass ihr in der Schule genug zu tun habt, aber ich möchte dir trotzdem eine kleine Aufgabe für den nächsten Termin geben. Ich möchte, dass du einen Brief an deinen Vater schreibst und ihm erzählst, wie es dir nach seinem Tod ergangen ist.« Fragend sah ich ihn an. Wozu das?

      »Der Brief muss nicht besonders lang sein. Schreib einfach auf, was du tief in deinem Inneren fühlst. Und dann schauen wir uns das Ergebnis nächste Woche gemeinsam an, in Ordnung?« Dr. Hahn rückte seine Fliege zurecht (Ja! Er trug Anzug und Fliege!), begleitete mich nach draußen, rief »Jorinde, wir sind fertig«, drehte sich dann um und schloss hinter mir die Tür. Ein wenig benommen stand ich am Empfangstresen und musste mir schon wieder die Nase putzen. »Aber Goldschatz, du bist ja ganz blass«, rief Jorinde besorgt.